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Das enfant terrible unter den Kabarettisten: Chin Meyer lässt im Café Spielplatz den Jubel rollen

Er deckt den haarsträubendsten Unsinn auf, stellt die absurdesten Vergleiche an, suhlt sich in den abgedroschensten Klischees und führt einzelne Gäste so gnadenlos vor wie kaum ein anderer Bühnenakteur.

Freitag, 11. Februar 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
2 Minuten 20 Sekunden Lesedauer

KABARETT (wil). Man darf Chin Meyer zu Recht als enfant terrible unter den Kabarettisten bezeichnen, dem nichts heilig ist — der aber aus allem etwas zu machen versteht. Am Mittwoch hatte er das Cafe Spielplatz als sein persönliches Schlachtfeld ausgewählt, um als Siegmund von Treiber, Steuerfahnder, zu wüten. Der Saal steht von Anfang an unter Generalverdacht und die Bühne ist für ihn nur die Brücke ins Publikum, wo er einzelne Gäste wie alte Bekannte, also ertappte Steuersünder, begrüßt.
Mit den Klischees vom korrupten Bauunternehmer und dem moosbewachsenen Finanzbeamten legt er ein Niveau fest, das er kaum überschreitet, aber in allen Feinheiten ziseliert, Abhängigkeiten konstruiert und immer wieder Tränen lachen lässt. Sein Programm zieht sich in drei Ebenen durch den Abend: da sind seine Tagebucheinträge aus dem Alltag im Finanzamt mit dem Mobbing, das er nicht wahrhaben will, da sind seine kurzen musikalischen Schmankerl, die „sinnlos das Geld verherrlichen“ und als Hauptteil seine steuer-​, gesellschafts– und weltpolitischen Tipps und Ansichten, die ob ihrer Absurdität schon wieder genial sind.
In perfektem Wirtschaftsdenglisch und übersät mit Abkürzungen tritt er als Marketingberater für das Finanzamt auf, verwandelt es — parallel zur Agentur für Arbeit — zur Cash Agency und macht aus der Steuererklärung das „science fiction document“.
Da schon mal in der Nähe Stuttgarts, macht er sich über die Wutbürger lustig, die Juchtenkäfer einsammeln und sieht nach der Landtagswahl eine schwarz-​grüne Koalition, in der Stuttgart 21 dann zum Krötentunnel XXL wird. Er untersucht den Rettungsschirm der EU, stellt fest, das es gar nicht unser Geld ist, das die Regierung ausgibt, sondern das unserer Urururenkel und — folgt man Sarrazin — dies also ein türkisches Problem ist.
Seine Zahlenakrobatik ist wirklich abenteuerlich, denn wenn ein Steuerfahnder 70000 Euro kostet, aber eine Million im Jahr eintreibt, so müsste man nur 1,6 Millionen Steuerfahnder einstellen um die Staatsverschuldung abzubauen, würde dabei noch die Arbeitslosigkeit halbieren — und die gesamte FDP-​Wählerschaft in den Knast bringen.
Anhand der Mehrwertsteuersätze von 19 und 7 Prozent rechnet er vor, was man kaufen muss, um Steuern zu sparen und durch die Kraftfahrzeugsteuerbefreiung im ersten Jahr hätte man mit dem Kauf eines Sattelschleppers ein Vermögen einsparen können. Die Statistik hat es ihm angetan — so sterben jährlich mehr Menschen durch Wildunfälle als durch Terroranschläge: folglich sind Rehe gefährlicher als die Taliban. Und bei der Selbstmordrate ist ein Spaziergang durch Bagdad sicherer als ein Abend allein zu Hause.
Am Beispiel eines Kneipiers, der an arbeitslose Alkoholiker Schnaps gegen Schuldscheine ausschenkt, erklärt er die jüngste Weltwirtschaftskrise, und man reibt sich erstaunt die Augen: der Vergleich klingt schlüssig. Überhaupt ist sein Verhältnis zu den Banken getrübt — warum sind dort die Kugelschreiber an der Kette, wo doch der Kunde ihnen Unsummen anvertrauen soll?
Mit einem Parforce-​Ritt durch die Fernsehlandschaft mit ihren Koch– und Tiersendungen und Dokusoaps nimmt er das Niveau unserer Gesellschaft aufs Korn und kommt zu einer fulminanten Zukunftsvision vom gesteuerten, aber glücklichen Volltrottel. Und zwischendurch erweist sich Chin Meyer immer wieder als genialer und spontaner Wortkünstler, der aus dem Publikum Stichworte holt und diese dann in Sekundenschnelle zu einem Schlager verarbeitet. Oder er präsentiert sich als die Rampensau, die gnadenlos mit dem Frauentisch vorn rechts ihre Scherze treibt, von der Subtraktion bis zur Haarfarbe.

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