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Denkwürdiges Treffen von ehemaligen Kommandeuren und Offizieren auf der Mutlanger Heide

Anlässlich des 25. Jahrestags der Unterzeichnung des INF-​Abrüstungsvertrags kam es gestern auf historischem Boden, auf der Mutlanger Heide, zu einer auch von überregionalen Medien beachteten Begegnung. Ehemalige Kommandeure und Offiziere der im Kalten Krieg in Ost und West feindlich gegenüberstehenden Atomraketen-​Einheiten lagen sich im alten Pershing-​Depot freundschaftlich in den Armen.

Donnerstag, 08. November 2012
Rems-Zeitung, Redaktion
3 Minuten Lesedauer

MUTLANGEN (hs). Wie bereits gestern ausführlich berichtet, nahmen die Gäste bereits am Dienstag an einer Podiumsdiskussion im Landesgymnasium teil. Der INF-​Vertrag vor 25 Jahren nahm ganz gravierend Einfluss auf die Weltgeschichte, mithin schon zwei Jahre später auch auf den Fall der Berliner Mauer: Im Dezember 1987 unterzeichneten US-​Präsident Ronald Reagan und sein weltpolitischer Gegenspieler Michail Gorbatschow den ersten Vertrag, der die damalige Rüstungsspirale unterbrach. Der INF-​Vertrag verpflichtete die USA und die Sowjetunion zur Vernichtung aller ihrer nuklearen Mittelstreckenwaffen. Er trug zum Ende des Kalten Krieges und zu weiteren Rüstungskontrollverträgen bei. Und die Mutlanger Heide war in den 80er-​Jahren Symbolort für die Stationierung der atomaren Mittelstreckenraketen als Antwort auf die Bedrohung durch russische SS20-​Flugkörper. Vor dem Tor der amerikanischen Raketenbasis demonstrierten und blockierten Zehntausende Anhänger der Friedensbewegung.
Mehrere Institutionen, darunter die Friedenswerkstatt Mutlangen, das Luftfahrtmuseum Finofurt und die Mayors for Peace (Bürgermeister für den Frieden) nahmen jetzt den INF-​Jahrestag zum Anlass einer freundschaftlichen Ost-​West-​Begegnung von Generälen und Offizieren, die im Kalten Krieg beiderseits des „Eisernen Vorhangs“ als Feinde gegenüberstanden. Mit dabei auch viele namhafte Vertreter der Friedensbewegung. Prominentester Teilnehmer des „Veteranentreffens“ war General a. D. Raymond Haddock, vor 25 Jahren Kommandeur des Pershing-​Kommandos hernach letzter Stadtkommandant von Berlin. Aus der ehemaligen Sowjetunion kamen u. a. Ex– Raketenoffizier Nikolaj Andrejewitsch Skiba und Nikolaj Wasiljewitsch Jegorow, Soziologieprofessor an der Linguistsischen Universität Moskau und früherer Offizier in der 119. Raketenbrigade (SS-​12) in Bischofswerda. Interessant und spannend anzuhören auch die Erinnerungen von Peter Schulz, ehemaliger DDR-​Offizier der Nationalen Volksarmee in einer Scud-​Brigade (atomare Kurzstreckenraketen). Die unerbittlichen Gegner von damals lagen sich beim Rundgang im ehemaligen Hochsicherheitsbereich freundschaftlich in den Armen. Die Kameras der mitgereisten Angehörigen und der vielen Pressevertreter klickten um die Wette. Dazu immer wieder sichtliche Emotionen. „Wer hätte vor 25 Jahren gedacht, dass das mal möglich sein wird?“ so immer wieder die fast ungläubige Frage in der Runde.
Geheimniskrämerei war einmal. Im Nachhinein stellte sich gestern auch heraus, dass die Militärgeheimhaltung von damals eh nur ein Witz war. Peter Schulz erzählt: Die Spionage und Aufklärung der NVA habe immer und ganz genau gewusst, wo in welchen Wäldern die mobilen Pershing-​Raketen gerade bewegt wurden und sich zu verstecken versuchten. Nicht nur Mutlangens Bürgermeister Peter Seyfried wird vom kalten Schauder gepackt, als Nikolaj Andrejewitsch Skiba aussagt: „In den mit Atomsprengköpfen bestückten Raketen meiner Brigade war auch Mutlangen als Ziel einprogrammiert.“ Und ein einzelner Sprengkopf dieser Fernwaffe hatte die 25-​fache Wirkung der Bombe von Hiroshima.
Mutlangen bereits programmiertes Ziel russischer Raketen
US-​Ruhestandsgeneral Raymond E. Haddock lüftet auch das letzte große Geheimnis der Mutlanger Heide. Wo waren damals die Atomsprengköpfe gelagert? „Ein Gewehr ohne Munition ist doch nutzlos.“ Ja, die Atombomben waren immer griff– und montagebereit hier in Mutlangen auch gelagert, wurden sogar in Fahrzeugkolonnen über Straßen und durch Dörfer und Städte des Landes mitgeführt. Zeitweise scheint trotz allem die Zeit vor 25 Jahren stehen geblieben zu sein. Denn beim Empfang im Rathaus und während des Rundgangs zu den alten Bunkern und Betonplattformen geraten die Vertreter der Friedensbewegung mit den Militärs immer wieder heftig in die Haare. Als die aufopferungsvolle Pflichterfüllung der Soldaten und Polizisten gelobt wird, ruft Friedensaktivist Volker Nick dazwischen: „Auch wir haben viel auf uns genommen.“ Lotte Rodi lässt die Meinung Haddocks nicht unkommentiert, der kritisch anmerkte: Es sei damals nur gegen die amerikanischen Pershing-​II-​Raketen, nicht aber gegen die russischen SS 20-​Raketen demonstriert worden. Die „Mutter der Gmünder Friedensbewegung“ betonte dazu: Der Protest habe sich immer gegen alle Raketenarsenale gerichtet.
Zentrale Frage auch: Wem ist das Ende des Kalten Krieges zu verdanken? Der Friedensbewegung oder der konsequenten Militärpolitik der Nato? Man einigt sich auf einen Konsens: „Wir hatten beide das gleiche Ziel vor Augen doch die Wege trennten uns.“ Und: „Die Historiker werden das Zusammenspiel der beiden Kräfte noch zu beurteilen haben.“
Zwischen Soldaten und Demonstranten stand damals die Landespolizei auf ihrem nicht einfachen Posten, um einerseits die Pflichterfüllung der US-​Streitkräfte und andererseits die Demonstrationsfreiheit zu garantieren. „Alle Polizisten in Baden-​Württemberg kannten Mutlangen“, beschreibt der ehemalige Landespolizeichef Willi Burger und lobt die Deeskalationstaktik seiner Beamten, die zusammen mit der Friedfertigkeit und steten Gesprächsbereitschaft der Protestierenden dafür gesorgt habe, dass selbst die größten Demonstrationen immer friedlich geblieben seien.
Es gibt immer wieder auch viel zu schmunzeln bei dieser denkwürdigen Begegnung. Der ehemalige Atomraketen-​General staunt, weil seine alten Bunker von der Gemeinde Mutlangen nun als ideales, weil trockenes Streusalzlager genutzt wird. „Sicherer geht’s nicht“, lacht er. Und dann: „Wer sind Sie denn eigentlich?“ will General Haddock vom uniformierten Polizeichef der Stadt Gmünd wissen. Denn damals waren es doch noch grünberockte Freunde. Der General kennt wohl die neuen dunklen Monturen der Polizisten noch nicht so genau. Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Ich war damals der Nikolaus!“ Polizeioberrat Helmut Argauer war noch einfacher Schutzpolizist im Raketendepot, aber schon so redegewandt, dass er kurz vor Weihnachten von der Uniform ins Nikolauskostüm schlüpfen durfte, um seinen Kollegen und auch den Soldaten in der Raketenbasis die Leviten zu lesen.
So trafen sich nun auch Nikolaj aus Russland und Nikolaus aus Deutschland. Doch auch der Besuch des Weihnachtsmanns dürfte schon damals den russischen Spionagesatelliten und Fernaufklärern gewiss nicht entgangen sein.

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