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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

Fremde in der Welt der Hörenden

Beiläufige Bemerkung eines Mannes, der nicht hören kann: Überhaupt nix anfangen könne er mit der Rufnummer 116 117 des ärztlichen Bereitschaftsdienstes, die von der RZ jeden Tag veröffentlicht wird. Die Frage, wie Hörgeschädigte um Hilfe rufen, lässt eintauchen in eine ganz andere Kultur.

Donnerstag, 28. Mai 2015
Rems-Zeitung, Redaktion
3 Minuten Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND (bt). „Drücken Sie die Eins“, tönt’s aus dem Hörer, oder „Legen Sie nicht auf“: Jemandem, der nicht hören kann, ist mit dieser Telefonnummer natürlich nicht geholfen. Bis heute ist ein Notruf-​Fax an die 112 „für medizinische bzw. feuertechnische Notfälle“ die beste Methode, um Hilfe zu rufen. Nur haben immer weniger junge Gehörlose ein Faxgerät, vor allem verzichten Arztpraxen und andere Einrichtungen darauf. DRK und Malteser, aber auch die Polizei zögern, Mailadressen zu veröffentlichen – zu groß ist das Risiko, dass eine solche Nachricht erst verzögert abgerufen wird. Auf eine Notfall-​SMS oder Whatsapp ist der Ostalbkreis noch nicht vorbereitet. Polizeisprecher Bernhard Kohn nennt eine unorthodoxe Möglichkeit: Ein einzelner Anruf, ohne dass sich jemand melde, könne als dummer Streich gewertet werden; bei mehreren Anrufen kurz hintereinander aber werde die Adresse rückverfolgt. Auch das Signal SOS ist allgemein bekannt; man muss nicht morsen können, um zu wissen, dass „drei kurz, drei lang, drei kurz“ ein Notruf ist. Dennoch sind Fragen offen.
Das RZ-​Gespräch mit Diakon Herbert Baumgarten von der Hörgeschädigtenseelsorge und der Gebärdensprachdolmetscherin Tina Romdhani hat gestern einiges angestoßen – so denkt Karin Gaida, Vorsitzende des Gehörlosenvereins Ostalb, jetzt über eine Veranstaltung im Herbst nach, die dieser Frage nachgeht. Eine kleine Umfrage Baumgartens im Gebärdenchor ergab, dass die meisten Hörgeschädigten im akuten Notfall einen Nachbarn um Hilfe bitten würden – aber eben auch, dass einiges im Argen liegt. Zum einen, so verdeutlicht Romdhani am Beispiel eines Kindes, das Putzmittel getrunken hat und aus dem Mund schäumt, will niemand ein solches Kind alleine lassen, um aus dem Haus zu rennen, zum anderen sprengt die Schilderung des Notfalls den Rahmen jeder Vorlage. Hörende, so sind sich die beiden einig, müssen vor allem begreifen, dass die Welt der Gehörlosen eine ganz andere ist.

Mit den Fingern über den Handrücken streichen: „Entschuldigung“. Diese Geste eines ansonsten in jeder Beziehung sprachlosen Schützlings war für die damalige Ehrenamtliche Tina Romdhani Anlass, sich für einen VHS-​Kurs Gebärdensprache einzutragen. Daraus wurde die Ausbildung zur Dolmetscherin: „Ich wusste einfach, dass ich nichts anderes machen wollte.“ Sie hat sieben Jahre, bis zur Revolution, in Tunesien gelebt und zieht durchaus Vergleiche zum Eintauchen in die Welt der Gehörlosen.
Vor zwei Jahren ist sie nach Eschach gezogen; sie ist glücklich hier in dieser traditionellen „Hochburg“ der Hörgeschädigten – St. Josef und das Hörgeschädigtenzentrum St. Vinzenz, früher auch eine staatliche Schule, waren für viele Betroffene Anlass, sich im Gmünder Raum niederzulassen. Diakon Baumgarten war überglücklich, von Tina Romdhani zu hören, sagt er – die nächsten Dolmetscher waren in der Paulinenpflege in Winnenden und in Ulm zu finden.
Die Schule St. Josef, die nunmehr nicht nur Realschulabschlüsse, sondern auch das Abitur anbietet, hat das Bildungsniveau ganz entscheidend angehoben: Das zu betonen wird man im Gmünder Raum nicht müde. Nicht zuletzt die Landesgartenschau hat die Welt der Hörgeschädigten mehr ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Dennoch, so Baumgarten und Romdhani, ist diese Gesellschaft eine hörende: Wenn an den Bahnhöfen Bahnsteigwechsel über Lautsprecher durchgegeben werden, wenn nach der Panne auf der Autobahn die Notrufsäule zum unüberwindbaren Hindernis auf dem Weg zur Hilfe wird, sogar wenn an der Polizeistation geklingelt und einer Nachfrage der Beamten mit Sprachlosigkeit begegnet wird, zeigt das, wie fremd sich die beiden Welten im Grunde sind. Die Mietwagenfirma schreibt dann: „Sie hätten die Polizei rufen sollen.“ Als eine Gehörlose bei der Polizei eine Aussage zu Protokoll gab, reichte ihr der sehr freundliche Beamte seine Visitenkarte: „Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch was einfällt.“ Darauf wandte sie sich an ihre Dolmetscherin und gestikulierte: „Er weiß schon, dass ich nicht sprechen kann?“
Das Thema ist komplex. Viele, die nicht hören, könnten theoretisch sprechen, aber weil beide Bereiche eng miteinander verknüpft sind, das Sprechen übers Hören erlernt, die Sprachbildung über das Gehör gesteuert wird, funktioniert das nicht immer. Ältere Hörgeschädigte berichten, wie mit vibrierendem Cellophan-​Papier vor dem Mund gearbeitet wurde, oder wie man ihnen Finger oder auch Kreide in den Mund schob, um etwa die Zunge in Position zu bringen. Das Sprechen ist für Hörgeschädigte nie leicht. Das Schreiben auch nicht, hat doch die Gebärdensprache eine ganz andere Grammatik: „Baum, Katze, Sitzt auf“ ist kein deutscher Satz. Die Schriftsprache zu erlernen, führt buchstäblich in die Zweisprachigkeit. Sprichwörter beispielsweise gehen bei den Gebärden grundsätzlich verloren. Experten gehen davon aus, dass generell bei einer Übersetzung in die Gebärdensprache aber auch beim Lippenlesen (es gibt keinen Unterschied zwischen „Mutter“ und „Butter“) bis zu 40 Prozent Inhalt verloren gehen. Dass der Versuch, zu verstehen, sehr anstrengend wird, und auch schon mal nickend ein Verstehen signalisiert wird, wo gar nichts verstanden wird.
Es gibt „Dialekte“ – in Bayern wird teilweise anders gestikuliert, St. Vinzenz in Gmünd hat eine eigene Haussprache entwickelt –, und es gibt wie in jeder lebenden Sprache Veränderungen. Aktuell wird heftig über die Geste für „Frau“ diskutiert: Ist die Andeutung der weiblichen Brust sexistischer als das Umschreiben von Stöckelschuhen? Es ist wirklich eine fremde Welt – mitten in Gmünd.
Auch im Notfall wird es keine ideale Lösung geben, schon gar kein Kommunikationsmittel für alle Generationen. Einschränkungen wird es immer geben, auch mit den neuen Notfall-​Apps, oder Dank eigens entwickelter Dienste wie Tess, die zwischengeschaltet werden und mittels Kamera simultan aus der Gebärdensprache übersetzen können. Wer zahlt, wer organisiert, was ist ein Menschenleben wert – die alten Fragen eben. Allein das Nachdenken über bessere Lösungen aber kommt den Hörgeschädigten ebenso zu Gute wie dem gegenseitigen Verstehen der Hörenden und Nicht-​Hörenden. Gehörlose müssen sich nicht gar so schwer tun in einer hörenden Welt.

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