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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

Mit 95 Jahren freut sich Karl Schmid-​Tannwald über ein Ausnahme-​Gedächtnis

Der Mann, der den Durchgang durchs Imaginäre wagte und es nie bereute: Was macht ein Globetrotter, ein Wissenschaftler, Abenteurer und Bergsteiger, wenn ihm das Alter weitere Reisen unmöglich machen? Er lässt die Fremde zu sich kommen. Ein Besuch bei Karl Schmid-​Tannwald, mittlerweile 95 Jahre alt.

Von Birgit Trinkle

Mittwoch, 27. April 2005
Rems-Zeitung, Redaktion
6 Minuten Lesedauer

Alles hier erzählt eine Geschichte. Der Stuhl für die Besucherin ist mit einer Knüpfarbeit überzogen. Prof. Dr. Karl Schmid-​Tannwald und sein Freund Wilhelm Reiberg haben sie in Ladakh einer tibetanischen Flüchtlingsfrau abgekauft und damit deren Überleben und das ihrer zwei Töchter sicher gestellt — Reiberg hat später dafür gesorgt, dass die Mädchen zur Schule gehen und ihr Abitur machen konnten. Und die beiden, längst zu erfolgreichen, selbständigen Frauen herangereift, haben den Kontakt nie abreißen lassen.
Wie so viele Männer seiner Generation, wird Schmid-​Tannwald im Alter von der Vergangenheit eingeholt — bei ihm sind’s freilich nicht die bösen Geister einer unbewältigten dunklen Epoche: „Auf wunderbare Weise“, so erklärt er „von Herzen dankbar“, kommen nun die alten Abenteuer zu ihm zurück, die Freundschaften, die er in der halben Welt geschlossen hat.
Da ist zum Beispiel der Gletscher Vatnajökull auf Island, 15 Mal so groß wie der Bodensee, dessen Eisfelder der junge Schmid-​Tannwald einst überquerte, um gemeinsam mit einem isländischen Freund zum Krater des Vulkans Grimsvötn vorzustoßen und 400 Meter abzusteigen — tief und immer tiefer ins ewige Eis, bis zur Eruptionsstelle. Nun ist dieser Vulkan im Frühjahr 2004 erneut ausgebrochen, worauf sich Wissenschaftler aus aller Welt an die damalige Expedition erinnerten. Der Sohn jenes Isländers, Gudmundur Einarsson, der sich wie sein Vater den Gletschern verschrieben hat, versuchte, „Karl Schmid aus Deutschland“ ausfindig zu machen — in der Hoffnung, diesen lebend anzutreffen. Ein unmögliches Unterfangen? Der Isländer fand im Internet Ingalf Schmid, den Sohn des Gesuchten. Ingalf war im Jahr 874 der erste Siedler auf Island; nicht viele Deutsche würden diesen Namen wählen.
Karl Schmid-​Tannwald denkt gerne zurück an die Jahre, in denen er „die Zeit und den Mut hatte“, sein Leben zu gestalten. Zuerst freilich gab ihm dieses Leben einen Fußtritt. So beschreibt er selbst die frühen 30-​er Jahre, in denen es für einen Naturwissenschaftler keine Arbeit gab, nicht mal Aussicht auf Arbeit. Auf eine achtjährige Wartezeit bis zur ersten Anstellung müsse er sich gefasst machen, wurde dem damals 24-​Jährigen bedeutet.

Sein Genueserschiff war ein Fahrrad

In einer Vorlesung hatte der junge Mann einen Satz gehört, der ihn nicht mehr losließ: „Im Leben wie bei der Lösung von Differentialgleichungen gibt’s zwei Wege — man klammert sich ans Reelle, oder man wagt den Durchgang durchs Imaginäre“. Das packte ihn: „Ein Junger kann wagen, kann sich ein Füllhorn von Werten, von Erlebnissen und Eindrücken erschließen“. Plötzlich fand er überall solche Sätze. Eugen Diesels Randbemerkung auf einem Manuskript — „Hier muss noch etwas erfunden werden“ — inspirierte ihn ebenso wie Friedrich Nietzsches Verse: „Dorthin will ich! Und ich traue /​Mir fortan und meinem Griff. Offen ist das Meer, ins Blaue /​Treibt mein Genueser Schiff.“ Als sei’s gestern gewesen, erinnert er sich, wie er in Stuttgart beim Leberkäs saß und im Tagblatt die Schlagzeile sah „Gewaltiger Vulkanausbruch auf Island“. „Dorthin will ich“, wusste er plötzlich. Sein Genueser Schiff war ein Fahrrad, mit dem er zuerst nach Hamburg radelte und dann Lappland durchstreifte. 50 Mark hatte er da in der Tasche; für die Überfahrt von Bergen nach Island zahlte er 45 Mark. Der ersten zufälligen Reisebekanntschaft verdankte er die kostenlose Unterkunft im Seemannsheim, der zweiten eine Anstellung als Knecht auf einem Bauernhof. Wie noch so oft in seinem Leben zeigte sich, dass sich immer ein Weg findet, wenn der Wille so stark ist.
Schmid-​Tannwalds Erlebnisse im Gletscher lassen sich nachlesen („Der Gletscher brennt“), ebenso wie die Erstbesteigung von sechs 6000 Meter-​Gipfeln in Peru („Eisgipfel unter Tropensonne“), die Wiederentdeckung einer hundert Jahre lang vergessenen Tiroler Kolonie im brasilianischen Urwald („Pozuzo“) oder die abenteuerliche Erforschung der Quellflüsse des Amazonas („Kolumbus ist noch nicht gestorben“). Seine einst beliebten Jugendbücher, auch sein letztes großes Werk „Und über mir die Sterne“ zeigen, dass sich Schmid-​Tannwald zeitlebens vom „Dorthin will ich“ zum Aufbruch drängen ließ. Noch heute leuchten seine Augen vor Begeisterung, wenn er davon spricht, wie wichtig es wäre, Pozuzo, das vergessene Dorf, das von Karl und Ingeborg Schmid-​Tannwald in den 50-​er Jahren aus dem Biedermeier ins Atomzeitalter katapultiert wurde, noch einmal von einem Geographen untersuchen zu lassen. Für kommende Generationen müsse man festhalten, was sich in den vergangenen 50 Jahren verändert hat — in der Sprache, im Wohnen, im Denken, durch E-​Werk und Telefon, durch die Straße (Schmid-​Tannwalds haben sich damals mit Töchterchen Marion 90 Kilometer über einen Urwaldpfad geplagt).
„Ich hab ein unerhört reiches Alter„
Doch der 95-​Jährige hört das „Dorthin will ich“ nur noch leise verklingen. Er lässt die Fremde zu sich kommen, in sein Häusle am Hohenstaufen. Hier melden sich Schülerinnen und Schüler aus Pozuzo, die ihn vor kurzem zum „Vorbild“ gewählt haben. Geographieprofessoren wie Ulrich Münzer bringen ihm ihre signierten Werke. Sein Kumpel Reiberg hat ihm mit Hilfe eines Schwertransporters einen Findling in den Garten gestellt, Überbleibsel seines literarischen Pfades in Westfalen, zu dem Schmid-​Tannwald kein Goethe-​Zitat, sondern einen schwäbischen Gedanken beigetragen hatte: „Von Tag zu Tag erhöht sich zwangsläufig die Zahl derer, die mich am Arsch lecken können“. Er habe ein unerhört reiches, ein spannendes Alter, benennt Schmid-​Tannwald sein größtes Geschenk.
So lernten sie sich kennen.
Der Mann hat immer gerne und viel gelacht, und er hatte dabei — wie bei den meisten seiner Expeditionen — eine wunderbare Partnerin an seiner Seite. Wie er Ehefrau Ingeborg kennen gelernt hat? Anfang der 30er hatte der junge Student, wie gesagt, überhaupt kein Geld. Mehr als einmal wurde er von Kartoffelschalensuppe notdürftig satt. Der junge Mann, der einige Semester in Hamburg studiert hatte, nur weil dort die Schiffe in die Welt hinaus fuhren — das Studiengeld verdiente er sich als Kistenträger -, freute sich über jede Möglichkeit zu reisen. Gerne nahm er deshalb die Einladung eines befreundeten Kunstprofessors an und fuhr mit dessen Meisterschülern nach Kärnten. Während die anderen — unter ihnen der Gmünder Maler Paul Mahringer — an ihrer Kunst arbeiteten, streifte der junge Mann durch die Berge. Eines Tages sprach ihn der Künstler Gottfried Schäfer an, der auf der Suche nach einem Christus-​Modell war. Schnell entschlossen sagte Schmid-​Tannwald zu und ließ sich Tag für Tag ganz ohne Kleider an ein Holzkreuz binden. Eines Morgens war aus dem Nachbarhaus ein „Ingerl, hol mir ein paar Küchenkräuterln“ zu hören. Als gleich darauf ein Mädchen den Garten betrat, machte sich Schäfer einen Spaß daraus, der Kleinen — Ingeborg war damals noch ein Backfisch — sein Modell zu zeigen. Die zukünftige Amazonasforscherin ließ ihr Messer fallen und flüchtete mit hochrotem Kopf. Von Ärger jedoch keine Spur: „Den und keinen anderen“, hat sie noch am selben Tag gesagt. Warum, darüber wird bis heute spekuliert. Schmid-​Tannwald geht davon aus, dass er „einen gewaltigen Eindruck“ gemacht hat. Seine Frau meint eher, sie habe sehr schnell erkannt, dass jemand, der so offensichtlich leidensfähig sei, zur Ehe tauge. Es dauerte Jahre, bis aus den beiden ein Paar wurde, aber bis heute dürfen sie zusammen sein — auch wenn Ingeborg Schmid-​Tannwald gesundheitlich schwer angeschlagen ist.
Nach der Vergangenheit gefragt, die ihn „auf so wunderbare Weise“ einholt, nennt Schmid-​Tannwald auch Schwäbisch Gmünd, Stadt seiner Jugend, „Stadt der Künstler und Goldschmiede“, in der er einige seiner schönsten Jahre verbracht hat. Auch wenn’s kaum zu essen gab und bis zum ersten Schnee barfuß gelaufen wurde: „Aber an Fasching hat man sein Bett verkaufen können“. Hier hat er 1962 bis 1973 an der PH unterrichtet; ehemalige Studenten wie etwa Werner Debler, die ihn sehr bewundert und ihn unter anderem mit einem Fackelzug nach Hohenstaufen verabschiedet haben, wissen seinen Geist und seinen Witz auch heute noch zu schätzen.

Schmid-​Tannwald wollte stets nur Neues erfahren und erforschen — dafür hat er gelebt.




Wenn einer eine Reise tut: Südamerika verbindet: Die mit dem Schiffsnamen.
Auf seltsame, phantastische Begegnungen, auf ganz außergewöhnliche Freundschaften blickt Schmid-​Tannwald zurück. Da ist zum Beispiel Dresden Pagels, liebe Freundin, an die er sich gerne erinnert.Das Schicksal von Schiff und Besatzung des Kleinen Kreuzers Dresden ist ein fast vergessenes Kapitel der Marinegeschichte, dabei finden sich hier alle Elemente für Legendenbildung — viele Monate der Heimatlosigkeit auf See und der Verlust eines Schiffes am anderen Ende der Welt.
Nachdem die Dresden am Rand der Karibik vom Kriegsausbruch 1914 überrascht worden war, folgte die Odyssee der längsten Einsatzfahrt, die jemals ein aktives Kriegsschiff der Marine vollbringen musste. Die Dresden überstand 1914 als einziges kaiserliches Schiff die große Schlacht bei den Falkland-​Inseln. Dank ihrer höheren Geschwindigkeit konnte sie die Verfolger abschütteln und schließlich mit Hilfe des deutsch-​chilenischen Lotsenkapitäns Albert Pagels in die patagonischen Kanäle entkommen. Hier versteckte sich das angeschlagene Schiff über zwei Monate vor dem englischen Großaufgebot, das sich an die Verfolgung gemacht hatte; immer dabei war Albert Pagels, der durch seine Kenntnisse der Gewässer um Feuerland, Patagonien und Kap Hoorn ein Entkommen garantierte; er suchte reiche Fischgründe auf und fand Verstecke, die nur bei Flut zu befahren waren oder einen niemand sonst bekannten Ausgang hatten. Während Pagels 1915 in einer dramatischen Aktion bei stürmischem Wetter ein Versorgungsschiff zum Versteck der Dresden führte, brachte seine Frau in Punta Arenas seine erste Tochter zur Welt. Pagels gab der Kleinen den Namen des Schiffes, das ihm so viel bedeutete — Dresden. Als erwachsene Frau lernte Dresden Pagels den Südamerika-​Forscher Karl Schmid-​Tannwald kennen und schätzen. Maria Teresa Parker de Bassi hat 1987 ein Buch über die Dresden veröffentlicht; auch mit der chilenischen Autorin verbindet Schmid-​Tannwald bis heute eine Brieffreundschaft.

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