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Die leichte Muse als Königin der Ignoranz

THEATER (wil). „Fortschritt kennt der Schlager nicht, er sehnt sich nach Evergreen und träumt von Wiederauferstehung“ – ein hartes Urteil über die leichte Muse und doch ein Treffer ins Schwarze.

Mittwoch, 29. April 2009
Rems-Zeitung, Redaktion
1 Minute 54 Sekunden Lesedauer

Die fünf Damen von „Dein Theater“ aus Stuttgart unternahmen einen Streifzug durch die deutsche Geschichte, stellten die Schlagertexte aus verschiedenen Jahrzehnten dagegen und kamen zu einem vernichtenden Ergebnis: Singen wir uns die Welt schön?
Nicht immer ganz melodientreu, aber mit viel Schwung und Gefühl ging es in der Theaterwerkstatt kürzlich durch ein Jahrhundert: von 1913 bis 1997 spannten die Gitarristin Gesine Keller und ihre vier Mitsängerinnen den Bogen. Auf der einen Seite saß Anne Buschatz und lehrte Geschichte, gegen sie sangen Martina Schott, Ella Werner und Barbara Mergenthaler stimmgewaltig an. Krasser konnte der Gegensatz kaum sein zwischen dem tatsächlichen Alltag der Menschen und der Sehnsucht, die sich im Schlager ausdrückt.
Sehr politisch, manchmal fast ein bisschen tendenziös, das gesprochene Wort, die Erinnerung an unsere Geschichte vom totalen Krieg über Trizonesien in die Reisewelle der Nachkriegszeit, die Studentenkrawalle anno 68, Wiederaufrüstung und Wiedervereinigung.
Und auf alle Ereignisse aus gut 50 Jahren –- das Schwergewicht lag zwischen 1943 und 1993 – gab es die Antwort der leichten Muse. Der Titel „50 Jahr blondes Haar“ war eine klare Aussage mit Schwerpunkt auf dem Vorurteil gegenüber blond. Ja, der Schlager ignoriert die Weltgeschichte, ob Eichmann-​Prozess oder Baader-​Meinhoff: es werden banale Texte geträllert. Für den Schlager steht das Individuum im Mittelpunkt, die kleine Frau mit ihren Alltagssorgen, das Klischee als solches.
Und wenn tausende Amerikaner in Vietnam sterben, das Schlagergirl „will ‘nen Cowboy als Mann“. Während Lech Walesa in Danzig dem Regime trotzt und eine Gewerkschaft gründet, fährt Vicky Leandros mit ihrem Theo nach Lodz, deutlicher kann sich die Schlagerwelt von der Realität nicht entfernen.
Doch„Dein Theater“ hatte es nicht vordergründig auf politische Belehrung abgesehen, die versteckte sich eher hinter dem munteren Erzählton von Anne Buschatz. So berichtete sie fast emotionslos über die Nachkriegszeit, versteckte das eine oder andere Augenzwinkern in ihren Berichten, stellte das Publikum allmählich vor Halbsätze und Stichworte und rasselte die letzten zwanzig Jahre im Akkord herunter. Die Welt war schnelllebiger geworden. Und der Schlager schriller. Dem zollten auch die Sängerinnen Tribut. Waren die Capri-​Fischer am Anfang noch fast zum Mitsingen, so wurden die Interpretationen emotionaler, härter, zerrissener. Doch „Dein Theater“ hat sich der Unterhaltung verschrieben, dafür sorgten die kleinen Einlagen.
Bei den Beinen von Dolores strampelte sich Anne Buschatz selbige fast aus dem Leib, die fabelhafte Frau zeigte sich strickend „Addio Donna grazia“ war als rührende Bahnhofsszene ausgestaltet.
Klein aber fein die schauspielerische Interpretation, kontrovers die Lieder zum Zeitgeschehen und gesanglich ein Genuss – das Publikum in der ausverkauften Theaterwerkstatt kam voll auf seine Kosten und geizte nicht mit dem Applaus.

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