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Leben, Wachsen, Blühen — und Vergehen

Wer hat jemals Blumen weinen sehen? Im Schloss Untergröningen vergießt eine Tulpe Tränen vor einem Scherbenhaufen. Nein, nur eine Projektion. Hier treibt die Fantasie traumhafte Blüten, und die Kunst misst sich mit dem Schönen der Natur. Von Reinhard Wagenblast

Freitag, 15. Mai 2009
Rems-Zeitung, Redaktion
2 Minuten 36 Sekunden Lesedauer

KUNST. „Hier gibt es so gute Leute“, meint Otto Rothfuss, der Kurator und künstlerische Leiter von KISS (Kunst im Schloss Untergröningen). Den Beweis tritt er mit einer Ausstellung an, die ein unerschöpfliches Thema aufgreift: die Kunst und die Pflanzenwelt. Vierzehn verschiedene Positionen sind in den Zimmern und Fluren dargestellt, das scheint nicht viel, doch dahinter steckt ein ganzer multimedialer Kunst-​Kosmos.
Nach der grafisch determinierten, schwarz-​weißen Ausstellung „aus gezeichnet“ wird es bunt in den weiß getünchten Fluchten des Schlosses: die „blühende Fantasie“ der Pflanzenwelt ist das Thema dieses Kunstsommers. Leben, Wachsen, Blühen – natura vivens, crescens, florens. Blütezeit, Blütenpracht und das der Natur inne wohnende Formvermögen bestimmen das „Bild“ dieser Ausstellung. Die Spannweite reicht von der Zeichnung über die Fotografie bis zu konzeptuelle Arbeiten. Nicht zu vergessen: Teppiche, schon immer das Feld der Blüten als florales Ornament. Hier aber ganz anders: Als wuchernde, riesenhaft an den Wänden wachsende Blumen aus Wollfäden, die Susanne Taras mit Druckluft an einem Stramin anbringt.
Oder als wahrer Teppich des Lebens, in einem dreifachen Sinn: Carola Dallmeier Zelger überträgt das Genom einer unscheinbaren kleinen Pflanze, der Arabidopsis thaliana, auf fünf bis zu 25 Meter lange Seidenteppiche, für jedes Chromosom einen. Damit schlägt sie einen Raum im Schloss aus. Die DNS-​Sequenz ist enorm, das Muster gerade noch so groß, dass es das menschliche Auge wahrnehmen kann. Ein Zimmer für eine Pflanze — sie hat es verdient. Denn diese Pflanze ist ein Lebensretter: Sie verfärbt sich auf Flächen mit höherer Stickstoffkonzentration rot, und vergrabene Landminen sondern Stickstoff ab. So findet und markiert die Pflanze die tückischsten Tötungsmaschinen. Hinzu kommt die Geschichte des Jacquard-​Webstuhls, der komplexe Muster möglich machte.
Oder die Mutter aller Finanzkrisen, der holländische Tulpenwahn des 17. Jahrhunderts. Ihn thematisiert Jeanett Oellers mit ihren berückenden Makrofotografien von Staub– und Blütenblättern, frei nach Paul Gerhardt: „Narzissus und der Tulipan, die ziehen sich viel schöner an, als Salomonis Seide.“ Ähnlich berauschend die hyperrealistische Schönheit der Tulpen-​Scans von Luzia Simons: das Schöne und Vergängliche, das Sinnliche und der Tod, man findet die Themen des Barocks wieder. Sie macht ein Missverständnis noch fruchtbar; sie verstand die Text-​Vorgabe „Aurikeln in Meissner Scherben“ wörtlich: Die in Berlin lebende Künstlerin zerdepperte zwar kein Meissner, aber feines KPM-​Porzellan, welches die Manufaktur gratis lieferte. Dabei war mit „Scherben“ schlicht und einfach „Topf“ gemeint. Über diesen Scherbenhaufen lässt sie eine projizierte Tulpe, die Migrantin aus Persien, Tränen aus Regentropfen weinen und verwelken.
Je ein Zimmer im Schloss, das Otto Rothfuss nun im neunten Jahr bespielt, nehmen die Objekte von Rosalie, Ruth Handschin und Zadok Ben-​David ein. Der Letztgenannte lässt kleine Stahlplatinen-​Blumen auf einem Quadrat aus Sand blühen. Ihre schwarze Rückseite lässt sie als Silhouetten wirken, die Vorderseite leuchtet in bunter Blütenpracht. Der Effekt ist atemberaubend — ein Teppich, dessen Muster ins Dreidimensionale springen. Rosalie schuf ein Objekt aus 49 floral gemusterten quietschbunten Kunststoff-​Quadraten. Im Ritter-​Museum in Waldenbuch hing das Objekt an einer Wand, als Teppich gewinnt es geradezu eine skulpturale Qualität.
Ruth Handschin legt eine Fiktion zugrunde: Der Sonnenkönig Louis XIV. hat die Bourbonen-​Lilie satt und lässt sich Unterwäsche-​Entwürfe mit Unkraut entwerfen. Drapiert sind die Unterhosen auf einer purpurnen Bettdecke, im Hintergrund ertönt dezente Kammermusik. So königlich kam der Löwenzahn noch nie heraus wie vor dem royalen Gemächt.

„Vivid Fantasy“, Ausstellung im Schloss Untergröningen. Eröffnung am Sonntag, 17. Mai, 15 Uhr. Bis 13. September. Öffnungszeiten: samstags und sonntags von 11 bis 20 Uhr. Führungen finden sonntags um 17 Uhr statt. Gezeigt werden außerdem Plakate von Frieder Grindler aus den Jahren von 1965 bis 2009, überwiegend Arbeiten für Schauspielhäuser.

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