Vier Dohlen im Königsturm — und ein Münsterarchitekt als Vogelbabysitter

Schwäbisch Gmünd

Rems-Zeitung

Eine Dohlenfamilie in Not, auf fast allen Stockwerken des Königsturms. Diese Nachricht alarmierte gestern nicht nur Ottmar Zieher vom AK Altgmünd und Münsterarchitekt Hermann Hänle , sondern letztendlich auch einen Zimmermann und eine Vogelauffangstation. Von Birgit Trinkle

Samstag, 06. Juni 2009
Rems-Zeitung, Redaktion
142 Sekunden Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND. Das Herzle schlägt wie wild. Erst sträubt er sich, der kleine Vogel, zappelt, dann allmählich wird er ruhiger. Er hat in den vergangenen Stunden, vielleicht sogar Tagen, lange Wege zurückgelegt hat im Königsturm — ohne fliegen zu können, wohlgemerkt. Die Federchen glätten sich, werden weich: Der Findling ist des Kampfes müde. Er hat einen Alptraum erlebt, der noch nicht vorbei ist. Auch Münsterarchitekt Hermann Hänle hat einen der kleinen Hüpfer in der Hand; der andere rutscht auf dem Tisch umher und muss vor dem Absturz bewahrt werden. Flöhe hüten ist vermutlich einfacher. Ein großer Vogelkäfig, eine Kiste, ein Karton: Irgendetwas muss her. Irgendjemand, der sich kümmert.
Hänle weiß, was gemeinhin für Jung-​Dohlen gilt: In Ruhe lassen und unter allen Umständen den Alten den Zugang zu ihnen zu ermöglichen Als gestern der Dohlen-​Notruf kam, war Doris Denzel denn auch alles andere als begeistert: Bei den Dohlen braucht der Nachwuchs Führung, um zu überleben, die, so sagt Doris Denzel, ein Mensch nicht geben kann. Nur eine Dohle weiß, wie eine Dohle ruft, fliegt, lebt. Denzel betreut seit über 23 Jahren eine Pflegestation für Vögel im Schwäbischen Wald, und unzählige Jungvögel und verletzte Tiere gingen durch ihre Hände. Dohlen sind ein heikles Thema. Sie können sehr zahm und zutraulich werden, etwa wenn aus dem Nest gefallene oder von den Eltern verstoßene Jungtiere von Hand aufgezogen werden – aber dann sind sie für ein Leben in Freiheit verdorben, und das ist für Vogelfreunde nicht akzeptabel. Nicht zuletzt: Die Dohle ist geschützt und darf gar nicht in Gefangenschaft gehalten werden.
Als dann klar war, dass die zerschrammten und zerzausten Jungtiere aufgepäppelt werden mussten und die Mama (Papa?) zwischen den Königsturm-​Gittern gefangen und ebenfalls völlig durch den Wind war, erklärte sich die Spraitbacherin zögernd bereit, den Nachwuchs aus der Familie der Corvus, der Krähen und Raben, anzunehmen. Hänle sah keine Alternative zur „Rettungsaktion“; da war ein großer Vogel in seinem Turm, der ohne Hilfe nicht mehr ins Freie gelangen konnte – und der, selbst wenn ihm dies gelungen wäre, ganz sicher keine Möglichkeit gehabt hätte, seinen auf drei Stockwerke verteilten Nachwuchs mitzunehmen. Hänle: „Ich hätte doch keine Chance, ans Nest zu gelangen, selbst wenn ich es so schnell finden könnte“ — besonders gern nisten die Dohlen nämlich in hohen (Kirch-)Türmen, wo ihre Nachkommen vor Mardern und Katzen geschützt sind. Und die Kleinen irgendwo abzulegen, in diesem Zustand, wollte er nicht verantworten. „Alleine hätten sie sicher nicht überlebt“, räumte Doris Denzel gestern Abend ein. Sie hat die drei Jung-​Dohlen mittlerweile in einer Voliere, füttert sie und wünscht sich sehr, dass sie bald fliegen und zum Königsturm zurückgebracht werden können. Da, so hofft Denzel, werden sie alleine zurechtkommen – wie die Jungfalken, die sie dort schon erfolgreich ausgewildert hat.
Auch der Elternvogel ist in Sicherheit. Zimmermannsmeister Michael Kessler hat rund drei Quadratmeter Gitter entfernt, um dem gefangenen Rabenvogel, der immerhin eine Spannweite von rund 70 Zentimetern hat, einen Weg aus dem Turm zu schaffen. Dohlen gelten nicht nur als gute Stimmenimitatoren – mittlerweile gibt es nicht wenige Vögel, die Handyklingeltöne im Repertoire haben –, sondern auch als ausgemacht klug. Mit ein bisschen Glück also, und dank der Nothelfer, wird diese Geschichte ein gutes Ende nehmen.