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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

Das wundersame „Leinzeller Steinkind“

Der bekannte Gmünder Frauenarzt Dr. Karl Mailänder hat in der Tübinger Universitätsklinik eine historische wie auch medizinische Wundergeschichte ausgegraben: Das schier unglaubliche „Leinzeller Steinkind“ aus dem Jahre 1720. „Der älteste Leinzeller“, wie der Mediziner liebevoll und mit großer Ehrfurcht auch im Zusammenhang mit dem 750-​jährigen Gemeindejubiläum an diesem Wochenende anmerkt. Von Heino Schütte

Samstag, 11. Juli 2009
Rems-Zeitung, Redaktion
2 Minuten 49 Sekunden Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND/​LEINZELL. Dr. Karl Mailänder (74) ist den Gmündern wohlbekannt. Jahrzehnte hindurch wirkte er in der Kinder– und Frauenklinik Margaritenhospital und führte als beliebter Mediziner am Sebaldplatz seine Frauenarztpraxis. Die Zahl der kleinen Erdenbürger, die unter seiner Obhut das Licht der Welt erblickten, ist Legion. Unvergessen auch die besonders „seine“ herzige Geschichte der Molinari-​Vierlinge, an der vor nunmehr schon 24 Jahren die ganze Stadt Anteil nahm. Doch immer wieder deutete er als praktizierender Arzt und dann als Ruheständler auf eine ganz besondere Begebenheit, die er bei passender Gelegenheit gerne in der Heimatzeitung beschreiben möchte. Diese Gelegenheit sieht er nun im Hinblick auf das 750-​jährige Jubiläum der Gemeinde Leinzell, das an diesem Wochenende gefeiert wird: „Lithopaedion Leincellensis“. Über diesen geheimnisvollen Begriff war er schon als junger Medizinstudent in der Universitätsfrauenklinik Tübingen gestolpert. Und er stand zeitlebens immer wieder vor jener Vitrine mit ihrem wundersamen Inhalt, welche wie ein wertvoller und einmaliger Schatz in der Sammlung der weltbekannten Uniklinik aufbewahrt wird. Es handle sich, so meint Dr. Mailänder gleichermaßen lächelnd wie voller Respekt, um den „ältesten Leinzeller“. Was ist ein Steinkind? Es handelt sich um einen absolut seltenen Fall einer Eileiterschwangerschaft, bei der ein abgestorbener Fötus nicht vom Körper resorbiert wurde, sondern durch Aufnahme von Kalk eingekapselt, mumifiziert und „versteinert“ wurde. Es sind in der Medizingeschichte nur ganz wenige solcher Fälle bekannt, überwiegend aus Afrika. Dr. Mailänder hat in Tübingen, Gmünd und Leinzell Dokumente und Quellen über das Steinkind gesammelt.
Seinerzeit herrschte nach dem Tod der 94-​jährigen Anna Müller aus Leinzell in der ganzen Gmünder Region helle Aufregung. Allein schon ihr gesegnetes Alter war eine Sensation. Doch damalige Medizinmänner und vor allem auch höchst besorgte Kirchenfürsten (nicht wenige befürchteten ja immer noch schreckliche Hexenwerke des Teufels) waren total aus dem Häuschen, als die Geschichte von Anna Müller und ihrem Steinkind publik wurde. Schon zeitlebens hatte die Leinzellerin ein unerklärbares Leiden, war ihrer Umgebung gar „geheimnisvoll“ erschienen, wie Dokumente berichten. Sie suchte verzweifelt Hilfe bei einem „Quacksalber“ in Aalen, der ihr „weißes Pulver“ und „Bäder“ verabreicht haben soll. Darauf ließen ihre Schmerzen nach. Ja, sie schenkte als etwa 50-​Jährige sogar noch zwei gesunden Kindern das Leben. Hochbetagt litt sie dann unter einem „Brustübel“. Alles kam der Obrigkeit und Familienanghörigen äußerst seltsam vor.
Nach dem Tod entschloss man sich unter amtlicher Aufsicht zu einer Obduktion bei „Chirurg Knaus von Heubach“. Hierbei wurde im Bauchkörper eine acht Pfund schwere „Kegelkugel“, augenscheinlich aus Stein, gefunden. Eine Öffnung mittels Messer scheiterte. Daraufhin sei, so der zeitgenössische Obduktionsbericht, „die Schale mit einem Beil aufgesprengt worden. Nun fand man im Innern die Leiche eines vollständig ausgewachsenen Knaben“. Der Fund kam mit detaillierten Protokollen des Chirurgen von Heubach und sogar des Pfarrers von Leinzell zunächst nach Stuttgart, wurde dort von den völlig ratlosen Beamten weitergeleitet zu den Gelehrten nach Tübingen. Noch im selben Jahr (1720) wurde dort unter großer Anteilnahme der gesamten Fakultät eine Doktorarbeit über das „Leinzeller Steinkind“ geschrieben. Hernach kam „Lithopaedion Leincellensis“, so der zwischenzeitlich amtliche Namen des geheimnisvollen Buben aus dem Leintal, ins königliche Naturalienkabinett nach Stuttgart, wo es streng und vertraulich verwahrt wurde. 1853 jedoch schickte man die „Sonderlichkeit“ erneut nach Tübingen, wo sie bedingt durch Fortschritte in der Medizin erneut unter die Lupe genommen wurde, hierbei auch sorgsam aufgesägt wurde. Gottfroh war die Obrigkeit, dass durch die ausführlichen Untersuchungen „Legenbildungen“ im gesamten Raum Gmünd vollends verhindert werden konnten. Das höchst besorgte Rätselraten hatte ein Ende: Das „Leinzeller Steinkind“ so wurde von amtsärztlicher Stelle vermerkt, sei weltweit nicht das einzige, jedoch von sehr, sehr seltener Natur.
Und bis zum heutigen Tag, so merkt Dr. Karl Mailänder in Würde und Respekt an, sei der kleine Leinzeller namens „Lithopaedion Leincellensis“ in der berühmten Sammlung der Universitätsklinik Tübingen ein ganz großes Wunder der Medizin und auch der Schöpfung.

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