Wie aus einem Junkie der Vorsitzende einer Selbsthilfegruppe für Russisch sprechende Migranten wurde

Schwäbisch Gmünd

Rems-Zeitung

Unorthodox ist seine Arbeit ganz bestimmt. Auch nicht unumstritten. Aber irgend etwas muss Dieter Hemberger mit seiner Arbeit im Bahnhofsgebäude richtig machen — davon zeugen junge Russlanddeutsche wie Dimitri Schwenk, die mit seiner Hilfe versuchen, ihre Sucht zu überwinden.

Freitag, 03. Juli 2009
Rems-Zeitung, Redaktion
272 Sekunden Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND (bt). Dimitri jammert nicht, sucht keine Entschuldigungen. Er erzählt einfach aus seinem Leben, in dem furchtbar viel verpasst und vergeudet wurde. Nach neun Jahren Heroinabhängigkeit ist der 31-​Jährige nun seit zwei Jahren weg vom Stoff. Er ist Ehemann, stolzer Vater und einer, der vom Konzept der Selbsthilfe so überzeugt ist, dass er mit seinem Namen und seiner Geschichte an die Öffentlichkeit geht: „Wer sich selbst hilft und das sichtbar macht, hilft den anderen“; andere, so versichert er, könnten von seinen Erfahrungen profitieren – man könne, müsse aber nicht unbedingt alle Fehler selbst machen.
1995 war Dimitri 17 Jahre alt. Seine Mutter und seine Großeltern verließen Kasachstan, um in Deutschland neu anzufangen. Dimitri wurde nicht gefragt. „Ich hab mich wohl gefühlt daheim, ich wollte nicht weg, auf keinen Fall“, erzählt Dimitri. Und dass er hier sauer war auf seine Familie, auf das fremde Land und überhaupt auf die ganze Welt. Der Film „Mondlandung“ drückt in etwa aus, was Dimitri Schwenk aus jenen ersten Jahren erzählt: Er wollte sich gar nicht einfügen, war „ohne Fahne, ohne Heimat“ und litt an fürchterlichem Heimweh. Auf der anderen Seite, stellt er fest, habe man ihn, den „Russen“, nicht mal ansatzweise akzeptiert, was ihn in seiner Ablehnung bestärkt habe. Eigentlich wenig überraschend, dass er unter diesen Bedingungen keinen Ausbildungsplatz oder irgend eine andere sinnvolle Beschäftigung fand. Statt dessen lernte er „Russen“ kennen, Menschen, die seine Sprache sprachen und ihm ein Stück Daheim schenkten. Es war eine „alternative Welt“, eine, in der „gekifft, gesoffen und gefixt“ wurde. 1998 war er selbst heroinabhängig. Was seine Mutter sagte, seine Großeltern, interessierte ihn überhaupt nicht: „Plötzlich funktionierte die Welt wieder, mir war alles egal.“ In den nun folgenden neun Jahren brachte ihn der Drogenkonsum ins Gefängnis, in verschiedene Entgiftungen (unter anderem in der Uniklinik Tübingen) und Therapien (in der Rehabilitationseinrichtung Schloss Börstingen und in Friedrichshof). Er verlor den Führerschein, erhielt die Heroin-​Ersatzstoffe Methadon und Subotex — und verlor immer mehr an Boden. 2007 veränderte sich etwas. Er sah seine Frau an, deren Kind aus erster Ehe und seinen eigenen damals zweijährigen Sohn, und wusste plötzlich, dass er ein Vorbild sein wollte, kein drogensüchtiger Familienvater. Und: „Ich wollte meinen Führerschein zurück und ich wollte nicht länger ein Loser sein“. Das war der Beginn seines neuen Lebens. Damals ist er wohl erst richtig angekommen in Deutschland. Der Sozialberatung Schwäbisch Gmünd und ihrem Programm „Cleanstart“ verdankt er die ersten entscheidenden Schritte. Irgendwann war dort auch das Thema Führerschein wieder aktuell; im Rahmen des Projektes Odis — ohne Drogen im Straßenverkehr – kam Schwenk dann erstmals in Kontakt zu Michael Hemberger.
In sechs Monaten wolle er wieder im Besitz einer Fahrerlaubnis sein, erklärte er dort. Hemberger lachte ihn aus. Junge Menschen, so erklärt der freiberufliche Sozialpädagoge, der im Bahnhofsgebäude unter anderem auf die MPU vorbereitet – im Volksmund noch immer „Idiotentest“ genannt –, könnten durchaus mit Druck umgehen, mit heftigen Auflagen. Besonders bei jungen Männern biete es sich geradezu an, die Messlatte hoch zu hängen: „Das spornt an. Dann wollen sie sich und der ganzen Welt etwas beweisen“. Bei Dimitri hat’s funktioniert.
Eine der Auflagen betraf die von Hemberger auf den Weg gebrachte Selbsthilfegruppe – etwas, das Schwenk zunächst in höchstem Maß suspekt war. Viele Russlanddeutsche, so erklärt Michael Hemberger, akzeptierten Sucht nicht als Krankheit, schon gar nicht als chronische Krankheit: „Wir wissen, dass Sucht neurobiologisch solche Veränderungen auslöst, dass ein ganzes Leben lang Rückfallgefahr besteht“; wer aus Russland komme, bringe meist die Vorstellung mit, nach einer Therapie gesund zu sein und zu bleiben; es bedürfe einiger Anstrengung, dieses Bild zu korrigieren. Im Kreise anderer „suchtkranker Migrantinnen und Migranten aus Osteuropa“ erfuhr Schwenk wieder „ein Stück Heimat“, das heißt, er fühlte sich wohl. Dieses Mal freilich musste er dazu nicht auf seine Identität verzichten. Hemberger: „Sucht wird auch durch den Wunsch, sich wohlzufühlen ausgelöst“. Eine schwäbische Gruppe der Anonymen Alkoholiker wäre für Dimitri Schenk nichts gewesen. So jedoch habe er Verständnis gefunden und erkannt, dass hier unterschiedlichste Menschen Sozialisation, Erfahrungen und Probleme teilten. Nachdem Dimitri sich nicht nur von der Droge, sondern auch vom alten Umfeld und allen alten Freunden verabschiedet hatte, brauchte er diese neuen Kontakte ganz dringend.
In der Gmünder „Dorkas“-Gruppe finden sich – in der Selbsthilfe sehr ungewöhnlich – Alkoholiker und Junkies gleichermaßen. Hemberger hat 2007 mit Hilfe von Bundesmitteln unter anderem diese Gruppe auf den Weg gebracht; das Projekt war darauf ausgerichtet, „neue Methoden für die Arbeit mit Migranten aus Osteuropa zu erarbeiten“, eben vor dem Hintergrund der überproportional großen Suchtprobleme sowie der Zahl der Drogentoten unter den Spätaussiedlern, die ebenfalls deutlich über dem liegt, was dem Bevölkerungsanteil entspräche. Hemberger führt das auf die mit der Übersiedlung einhergehenden Probleme zurück, aber auch auf tradierte Trinkgewohnheiten und eine für hiesige Begriffe „naive Einstellung zu Suchtmitteln“.
Das Dorkas-​Konzept orientiert sich an traditionellen Hauskreisen. Die insbesondere im stalinistischen Russland unterdrückten Russlanddeutschen, so Hemberger, hätten sich schon immer ein Informations– und Selbsthilfesystem aufgebaut, um überleben zu können: „Die großen Familienverbände haben notgedrungen ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt“. Auch hier, in Deutschland, zeichneten sich die russlanddeutschen Familien dadurch aus, dass sie „nicht nur den Kontakt halten, sondern sich auch untereinander helfen“ – viele Hilfeinstitutionen hierzulande würden aufgrund dieses gewachsenen Misstrauens Behörden gegenüber nur schwer akzeptiert. Im Dorkas-​Selbstverständnis verankert ist auch die Nähe zu den Kirchen. Über Kontakte zu Pastoren in Herlikofen und Oberbettringen sind Michael Hemberger zufolge nach den Ferien unter dem Motto „Was hilft, wenn beten nicht hilft“ Informationsveranstaltungen geplant.
Seit 2008 leitet Dimitri Schwenk nun die Gmünder Dorkas-​Selbsthilfegruppe, in der deutsch und russisch gleichermaßen gesprochen wird. Kürzlich wurde er zudem zum Vorsitzenden eines bundesweites Netz von Selbsthilfegruppen („Kosmos“) gewählt, das längst nicht mehr nur auf Alkohol– und Drogenprobleme beschränkt ist. Von Adipostitas also Fettleibigkeit, bis hin zur Arbeitslosigkeit decken die Sorgen, die gemeinsam getragen werden sollen, ein beachtliches Spektrum ab. Für Hemberger ist diese Wahl nicht überraschend: Gmünd sei den Selbsthilfegruppen mit russischsprachigem Hintergrund vor allem durch verschiedene Fortbildungsangebote ein Begriff. Auch hätten sich viele Ansätze der Dorkas-​Gruppen für jede Form russlanddeutscher Selbsthilfe bewährt. Und Dimitri Schwenk sei einer, der sich in seine Aufgabe verbeiße – immerhin habe er mittlerweile auch einen CNC-​Kurs erfolgreich bewältigt – und in ihr aufgehe.
Wer ein Problem mit Alkohol oder Drogen hat oder befürchtet, ist herzlich willkommen, sich bei Dimitri Schwenk zu melden
(Tel. 0 79 61/​5000 100)