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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

Der Leiter der Gedenkstätte in Grafeneck sprach auf Einladung von Franz Merkle in Schwäbisch Gmünd

homas Stöckle, Historiker und Gedenkstättenleiter in Grafeneck, sprach kürzlich auf Einladung von Franz Merkle in Schwäbisch Gmünd, um an ein schwarzes und sehr trauriges Kapitel der Geschichte zu erinnern.

Samstag, 02. Oktober 2010
Rems-Zeitung, Redaktion
3 Minuten Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND (pm). „Schlimme Dinge passieren immer anderswo. Grafeneck ist schön – und war immer etwas unheimlich. Aufwachsen in der Nähe von Grafeneck hieß: von Anfang an spüren, ahnen, dass es mit diesem Ort etwas Besonderes auf sich hat. An Orten, über die man nicht redet, muss Schreckliches geschehen sein … Grafeneck wurde umgangen. Im wörtlichen Sinn … Auch geredet wurde nicht über das, was doch jeder wusste … Die bösen Geister der Vergangenheit ruhen lassen. Grafeneck umgehen.“ So zitierte Franz Merkle den ehemaligen Jugendpfarrer Otto Frey zu Beginn einer Veranstaltung von Forum G, Evangelische Erwachsenenbildung der Gesamtkirchengemeinde Gmünd . Und Merkle weiter: „Nein – nicht Grafeneck umgehen. Sich Grafeneck stellen!“ Eingeladen hatte er Thomas Stöckle, Historiker und Gedenkstättenleiter in Grafeneck.
Erster Ort im damaligen Deutschen Reich für die Aktion „T4“
Grafeneck — ehemaliges Schloss der württembergischen Herzöge und seit 1929 „Krüppelheim“ der Samariterstiftung — liegt im idyllischen Lautertal bei Münsingen, ganz in der Nähe des Haupt– und Landgestüts Marbach. Ende 1939 wählten Vertreter der „Kanzlei des Führers“, des Reichsministeriums des Inneren und des württembergischen Innenministeriums Grafeneck als ersten Ort im Deutschen Reich für die Aktion „T 4“ aus. „T 4“ so benannt nach der Tiergartenstraße 4 in Berlin, von wo aus die Maßnahmen zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ koordiniert wurden. Eine breite Strömung biologistisch, genetisch, pseudowissenschaftlicher Auffassungen von dem, was „lebensunwertes Leben“ sei, gab es in vielen gesellschaftlichen Gruppierungen und Institutionen schon lange vor dem Nationalsozialismus. Insofern sprang diese Bewegung nur noch „auf einen fahrenden Zug“ auf. Außer Grafeneck wurden in Brandenburg, Sonnenstein, Bernburg, Hadamar und Hartheim/​Linz Vernichtungsanstalten eingerichtet. In wenigen Monaten wurden über 70.000 Menschen mit geistiger und psychischer Behinderung, allein in Grafeneck 10.654, das jüngste 4, 5 Jahre alt vergast. Stöckle: „ Der Koch hat gekocht, die landwirtschaftlichen Arbeiter haben auf dem zum Schloss gehörenden Gut gearbeitet, die Hausangestellten gingen ihren täglichen Verrichtungen nach, während nicht weit entfernt von ihnen Menschen vergast wurden. Man wollte ´denen da oben zeigen: wir können das, es klappt, Menschen zu vernichten.“
Und damit wurde Grafeneck und die anderen 5 Vernichtungsanstalten zum „Probelauf“ für die systematisch betriebene Ausrottung in den Vernichtungslagern des Ostens.
Während es für die Zwangssterilisierung Hunderttausender eine gesetzliche Grundlage gab(„Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“) gab es keine gesetzliche Grundlage für die Euthanasiemorde („Geheime Reichssache“). Die Heil– und Pflegeanstalten in verschiedener Trägerschaft, in denen sich auch Patienten des damaligen Oberamtes Gmünd befinden, werden aufgefordert, alle Patienten mit bestimmten psychischen Erkrankungen und unheilbar geistigen Kranken zu melden. Diese Menschen galten nach der Diktion des 3. Reiches als „unnütze Esser, Kostenfaktor, nicht mehr produktiv“. Nur eine Auswahl der angeschriebenen Anstalten: Weinsberg, Winnenden, Zwiefalten, Schussenried, Bürgerhospital Stuttgart, Christophsbad Göppingen, Rottenmünster, Liebenau, Rabenhof Ellwangen, DIAK Hall, Stetten, Paulinenpflege.
In Grafeneck waren drei Busse der Reichspost, grau umgespritzt und mit Milchglasscheiben versehen, stationiert. Sie holten die Opfer ab, wobei sich oft erschütternde Szenen abspielten. Nach dem Eintreffen der Kranken wurden sie in der Aufnahmebaracke ganz kurz den Ärzten vorgestellt. Diese Untersuchung diente nurmehr der bürokratischen Abgleichung der mitgelieferten Akten. Dann ging es zum Tötungsschuppen, getarnt als Duschraum, das Kohlenmonoxidgas wurde eingeleitet. Der Tötungsvorgang dauerte etwa 20 Minuten. Den Hilfskräften, die die Leichen wegschaffen mussten, bot sich ein schrecklicher Anblick. Alle Leichen wurden verbrannt, Urnen mit wahllos eingefüllter Asche den Angehörigen zugesandt.
Den Ärzten stand eine Liste mit möglichen Todesursachen zur Verfügung, ebenso gab es schematische „Trostbriefmuster“. Am 13. Dezember 1940 endet in Grafeneck die Vernichtung geistig und psychisch kranker Menschen. Aber nicht etwa wegen Protesten oder Unruhe in der Bevölkerung, sondern aus einem ganz einfachen Grund: „Plansoll erfüllt“. Das Sterben in den Heil– und Pflegeanstalten selbst ging aber weiter: durch Verhungern, schlechte oder keine medizinische Behandlung, Zu-​Tode-​Spritzen.
Die Diskussion über die Frage, was „lebenswertes oder lebensunwertes Leben“ ist, wird in jeder Gesellschaft immer wieder von bestimmten Gruppierungen aufgeworfen.
Ihnen sei in Erinnerung gerufen, was der damalige Bischof von Münster, Graf von Galen in einer Predigt am 3. August 1941 sagte: “Wenn man den“unproduktiven“ Menschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden … Wehe den Invaliden, die im Produktionsprozess ihre Kraft, ihre gesunden Knochen eingesetzt, geopfert und eingebüßt haben … wehe unseren braven Soldaten, die als Schwerkriegsverletzte, als Krüppel, als Invaliden in die Heimat zurückkehren.“
Wenn dem Staat das menschliche Leben nicht mehr heilig ist
Und der damalige evangelische Landesbischof Wurm in einem Brief vom 19. Juli 1940 an den Reichsinnenminister: „Die Entscheidung, wann dem Leben eines leidenden Menschen ein Ende gesetzt wird, steht dem allmächtigen Gott zu… Wenn die Jugend sieht, dass dem Staat das Leben nicht mehr heilig ist, welche Folgerung wird sie daraus für das Privatleben ziehen? … Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr.“
Etwa 30 Mitbürger aus Gmünd und dem damaligen Oberamt Gmünd fielen der Euthanasie zum Opfer

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