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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

Gestern Abend wurde in der PH zur Podiumsdiskussion über das „Bildungsproblem Junge“ geladen

Sind tatsächlich Jungen das Problem oder werden Jungen im deutschen Bildungssystem benachteiligt? Sind im Zuge notwendiger Frauenförderung die Jungen aus dem Blick geraten? Diesen und anderen Fragen spürten gestern ausgewiesene Fachleute in einer Podiumsdiskussion nach.

Donnerstag, 18. März 2010
Rems-Zeitung, Redaktion
3 Minuten Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND (bt). Prof. Dr. Andreas Benk sprach im Namen der PH als Gastgeber und moderierte das Gespräch. Die von ihm zitierten Klagen über Jungs – gewalttätiger, störend, binden die Aufmerksamkeit der Lehrkräfte, lernen langsamer, schneiden bei Tests schlechter ab etc. – und die einschlägigen Publikationen, die er anführte, zeigten, dass die Jungen-​Frage tatsächlich Thema ist in Deutschland. Eines war Benk jedoch vor allem wichtig: „Wir leben in einer männerdominierten Gesellschaft“; die Benachteiligung von Frauen sei noch immer skandalös, wie ja nicht zuletzt in der jüngsten PH-​Ausstellung zu sehen sei. Vielleicht müsse man sich ja auch aus dieser Perspektive die Frage stellen, was in der Bildung von Jungen schief laufe.
Dr. Margarete Blank-​Mathieu, Dozentin und Expertin für geschlechtsbezogenen Sozialisation, sah ein Bildungsproblem bereits im Kindergarten. Bereits in ihrer Ausbildung habe sie erkannt, dass es „Frauen nicht bewusst ist, dass sie mit Jungs und Mädchen arbeiten“; dabei sei es sehr wichtig, die entsprechenden Unterschiede wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Im Kindergarten werde Männlichkeit angelegt („lasst den Jungs ihre Stöcke“); Jungen müssten sich abgrenzen von Frauen, um männlich sein zu können, und die Bedürfnisse von Jungen seien für Frauen schwer verständlich. Blank-​Mathieus große Klage: Es gebe viel zu wenig Männer, an denen sich kleine Jungs orientieren könnten; die Vorbilder, die sie sich im Fernsehen suchten, seien nicht eben wünschenswert. Dass all das nicht leicht zu ändern sein wird, erläuterte sie am Beispiel einiger Reaktionen auf von Männern genommene Elternzeit.
Dipl. Psych. Markus Hirsch, als Leiter der Gmünder Canisius-​Beratungsstellen mit Diagnose und Therapie gleichermaßen vertraut, nannte zunächst einige Thesen. Es gebe definitiv Unterschiede zwischen Jungs und Mädchen, und vielleicht, so erklärte er augenzwinkernd, sei es an der Zeit, dass sich die Pädagogik ein Beispiel nehme an der Textilindustrie, die seit langem auf diese Unterschiede reagiere. Trotz des zunehmenden Wissens über Erziehung – etwa durch all die Ratgeber – seien Erziehende heute eher unsicher; mögliche Gründe dafür seien die fehlende Großfamilie und der so oft abwesende Vater. Auch Wertewechsel und wirtschaftliche Sorgen mit all dem damit verbundenen Stress nähmen den kleinen Menschen die Sicherheit. Seit dem Pisa-​Trauma“, so eine weitere These, stünden die Kleinen erheblich unter Druck; „frühe Bildung“ werde zum Teil bereits falsch verstanden. Viele Kinder könnten mit diesem Tempo nicht mithalten. Und was früher als „freches Verhalten“ durchging, werde zunehmend pathologisiert, sprich als störend, ja krank bewertet. Grundsätzlich wehrt sich Hirsch gegen Pauschalisierungen. Man müsse entscheiden, ob am Bildungssystem angesetzt werde oder an den Menschen – denn dann entscheide allein der einzelne Mensch.
Dipl. Theol. Paul Stollhof, Pädagogischer Geschäftsführer des Ordensschulen Trägerverbunds Kloster Sießen, ist unter anderen Schulen zuständig fürs künftige Franziskus-​Gymnasium, an dem Jungen und Mädchen zunächst getrennt unterrichtet werden sollen. Die Sießener Schulen, so Stollhof, seien von Alters her Mädchenschulen, und es habe sich gezeigt, dass die Geschlechtertrennung für die Entwicklung und Stärkung von Mädchen sehr hilfreich sei. Stollhof: „Wir hoffen dass das für Jungs auch gilt“; Jungenbildung bzw. Jungenpädagogik gebe es nämlich nicht. Auch Stollhof sprach von vielen Formen der Männlichkeit und der Weiblichkeit und erklärte, Schule sei zunehmend ein Problem für Jungen und Mädchen, weil sie mit Heterogenität so schlecht umgehen könne, also mit den unterschiedlichen Persönlichkeiten, Interessen etc.: „Die Kinder passen immer weniger, immer mehr werden aussortiert“.
Dipl. Theol. Dipl. Päd. Tilman Kugler, u.a. Referent für Männerarbeit der Diözese Rottenburg Stuttgart erklärte, dass Jungs nicht nur die schlechtesten, sondern auch die besten Schüler stellten. Er sprach von seiner Überzeugung, dass in der schulischen und außerschulischen Jugendbildung einiges verändert werden muss. Eine jungengerechte Schule müsse dem Bewegungsdrang, als wichtigem Bedürfnis entgegenkommen, ebenso der Handlungsorientierung, die Jungs viel stärker zeigten. Schule müsse nach Kräften versuchen, die „Väterlücke“ zu verringern – schließen werde sie diese Lücke sicher nicht. Wenn Jungs im Alter bis zehn Jahre nur von weiblichen Bezugspersonen umgeben seien, seien sie mit Abgrenzung beschäftigt und stürzten sich auf „Identitätskrücken“. Vielleicht sei es an der Zeit, so Kugler, Rollenmuster zu erweitern, „die nicht mehr tragen und uns in Krisen führen“. Was er in seiner langjährigen Praxis ebenfalls erkannt habe: Jungs brauchten gute Autorität – „wer ist der Chef“ – , eine klare Hierarchie, viel stärker als Mädchen.

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