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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

Gmünder Eisenbahngeschichte(n), Teil 4: Silberwarenfabrikant Otto Wolters Erinnerungen an Eisenbahn-​Streiche und Anfangsjahre des Gmünder Bahnhofbetriebs

Jakob Wolter gehörte zu den ersten Bahnbeamten und Vorstehern der Königlich Württembergischen Staatsbahn im Gmünder Bahnhof. Dessen Sohn Otto Wolter, Gründer der traditionsreichen Silberwarenfabrik an der Remsstraße, haben wir wunderbar lebendige Beschreibungen des damaligen Bahnhofalltags zu verdanken. Von Heino Schütte

Freitag, 18. Februar 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
5 Minuten Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND. Kurt-​Eugen Wolter (Urenkel von Bahnhofsvorsteher Jakob Wolter) und seine Frau Helga halten diesen Erinnerungsschatz von Otto Wolter ehrfurchtsvoll in Händen: In feinster Sütterlinschrift hat der Silberwarenfabrikant seine Kindheits– und Eisenbahnerinnerungen an die Anfangszeit der regelmäßig im Remstal verkehrenden Dampfrösser in einem Buch niedergeschrieben. Bemerkenswert einfühlsam und mit Feingeist hat der Autor auch den Zeitgeist jener Jahre dokumentiert. Er schürt damit Nachdenklichkeit angesichts eines strengen Erziehungswesens, überwiegend jedoch Heiterkeit beim Einblick in den beschaulichen Bahnhofsbetrieb. Könnte man sich beispielsweise heute folgende Szenerie vorstellen: Während Lokführer und Heizer beim Schoppen sitzen, setzt Lausbub Otto Wolter zusammen mit Freunden eine Lokomotive in Betrieb, zerdeppert dabei auch noch das Tor einer Remise! Oder die Spitzbuben kuppeln nachts Wagen ab, so dass am Morgen nur ein halber Güterzug davondampft!
Der Reihe nach. Am Anfang ging’s in der Eisenbahn-​Familie von Jakob Wolter eher traurig zu. Um 1859 wohnte und arbeitete und lebte man noch an der neuen Bahnstrecke in Esslingen. Die katholische Familie hatte in der protestantischen Stadt kein leichtes Dasein. Besonders die Kinder hatten zu leiden.
Otto Wolter: „Die Protestanten konnten die Katholischen nicht leiden. Wenn wir Buben auch spielen wollten, mussten wir stets hören: Du bist ein Kreutzkopf, du darfst nicht mitspielen! Wir wurden vom spielen ganz ausgeschlossen. Sehr häufig kam es vor, dass, wenn wir von der Schule nach Hause giengen, wir von einem Haufen Buben verfolgt & gejagt wurden bis an unsere Hausthüre und beständigemschreien: Haut nur die Kreutzköpfe recht durch! Die Erwachsenen sahen zu & freuten sich, wenn wir recht gejagt und verhauen wurden. Wenn wir den Eltern, Lehrern oder dem Herrn Stadtpfarrer unser Leid klagten, hieß es nur, da können wir nichts machen, wir seien halt die Minderheit!“
Die erste Begegnung der Eisenbahner-​Familie mit der „lieben Stadt Gmünd“
Zwischendurch schreibt Otto Wolter über abenteuerliche Streiche am Neckar und an den Seitenkanälen. Doch dann erneut die Klage und die Beschreibung des traurigen Alltags. Die Mutter wurde sogar krank, offenbar waren auch die ständigen Sorgen über das katholische Dasein inmitten der wüsten Protestanten eine der Ursachen.
Doch dann keimt Hoffnung; Otto Wolter erinnert sich: „Als im Jahr 1861 die Remsbahn eröffnet wurde, sagte unsere liebe Mutter zum Vater: Thu mir jetzt den einzigen Gefallen & melde dich weg von hier, am liebsten nach Gmünd.“ Die Familie hatte Sehnsucht nach einem sorgenfreien Leben in einem Bahnhof einer anständigen katholischen Stadt. Und Gmünd war natürlich durch seine vielen Kirchen, Wallfahrtsstätten und die Vergangenheit der Klöster als volksfrömmig-​katholischer Ort in ganz Württemberg wohlbekannt und geschätzt. Umgekehrt waren freilich die „Wüstgläubigen“ in ihrer damals noch einzigen Kirche im ehemaligen Augustinerkloster (heute Finanzamt) in der bedauernswerten Minderheit. Doch das konnte dem katholischen Bahnbeamten egal sein, als er und seine Familie 1861 die Koffer packten, um vom Neckar– ins Remstal umzuziehen. Vater Jakob war bereits an seinen neuen Dienstort vorausgeeilt, um alles einzurichten. Dann folgte die Familie.
Zunächst fuhren die „Auswanderer“ mit dem Zug durchs Filstal nach Süssen. Nach einer Zwischenübernachtung marschierten Mutter Genovefa mit ihren Kindern „bei schönstem Wetter“ frohgemut los. Gegen Mittag, so die Erzählung des damals 16-​Jährigen weiter, standen die Neubürger dann endlich am Strassdorfe Berg und schauten erwartungsvoll erstmals hinab auf ihre neue Heimat. Das Heilig-​Kreuz-​Münster gewiss als verheißungsvolles Schiff inmitten des kleinen Häusermeers von „Schwäbisch Nazareth“ . Eine glückliche Fügung: „Als wir den Straßdorfer Berg herunterkamen, begegnete uns mit einem Fuhrwerk der uns bekannte Kutscher A. Er machte, als er uns erkannte, das Zeichen des Kreutzes und unsre liebe Mutter meinte, dass das Glück bedeute. Am Josephskirchlein wurde angehalten, wir mussten hinein und mussten beten. Nachher gieng es die Waldstetter Gasse hinein, über den Marktplatz & die Ledergasse hinaus auf den Bahnhof. Die liebe Stadt Gmünd sah damals noch recht ländlich aus. Vor vielen Häusern sah man noch Dunglegen. Der Bach vom Kornhaus bis ans Rathaus war noch unbedeckt, es führten kleine Stege an die Hausthüren. Am Bahnhof wartete bereits der Vater. Ein neuer Lebensabschnitt begann. „Wir erklärten Vater gleich, dass wir großen Hunger hätten, worauf er meinte: So, dös fängt ja schon gut an! Wir giengen darauf in den Hecht, wo wir Wurst, Brot & Bier bekamen. Als wir wieder gestärkt waren, besuchten wir zunächst die Kirchen, welche unserer lieben Mutter sehr gut gefielen. Sie war ganz entzückt in der Stadtkirche & meinte, dass es da eine Freude sei zu beten.“ Nach ein paar Tagen folgte der Hausrat. Auf dem Gmünder Bahnhof fing eine frohe Zeit an. „Der Bahnhverkehr war noch sehr klein; es fuhren tagsüber in jeder Richtung 7 Züge. Es gieng noch ganz gemütlich zu & stets gab es Verspätungen.“
In jenen Anfangsjahren gab es ja außerhalb der Bahnstationen mit ihren Rangiergleisen und Drehscheiben auch nur ein Gleis. Laternen an der Kette der Bahnwärterhäuschen dienten als Signale. Eine Telegraphenverbindung stellte jedoch schon die Kommunikation und den Fahrbetrieb sicher. Immerhin: Die erste Gmünder Bahnhofsanlage mit zahlreichen Rangier– und Abstellgleisen, mit Wagen und Lokremise, mit Drehscheibe und Wasserwerk, mit Rampen und Güterschuppen war um ein Vielfaches größer als die heute im Jubiläumsjahr verbliebene Durchgangsstation. Niemand ahnte in jenen Jahren der Eisenbahnbegeisterung, dass rund 125 Jahre später der Niedergang der einst florierenden Güterabfertigung am Gmünder Bahnhof eingeleitet werden sollte. Doch davon berichten wir in späteren Folgen unserer Serie zum Eisenbahnjubiläum.
Zurück zu Otto Wolters Erinnerungen an den Alltag, besonders an seine Bubenstreiche am Bahnhof. Die sind einfach nur köstlich zu studieren und aus heutiger Sicht des hochtechnisierten und sensiblen Betriebs der Bahn mit Hochgeschwindigkeitszügen und streng getakteten Fahrplänen einfach nur unglaublich. Für die Lausbuben war offenbar die Handhabung einer Dampflokomotive mit ihren wenigen Hebeln überhaupt kein Problem. Lassen wir Otto Wolter erzählen: „Eines Tages stand hinter der Remise eine Locomotive. Mein Bruder sagte: Wenn der Vater nicht da ist, laß ich die Maschine laufen, du rufst die Wagenlängen. Ich sagte ihm, dass dies doch gefährlich & wenn was passiere, der Vater uns tod schlagen würde. Darauf sprach mein Bruder: O Kerle, bist du ein Hasenfuß, was soll denn da passieren, zum Teufel gehen kann die Locomotive nicht, ich will schon bremsen. Ich stellte mich nun am Eck der Remise auf; mein August kletterte auf die Maschine, ließ pfeifen, legte den Hebel vor, hat das Ventil vorsichtig & langsam geöffnet & die Maschine fuhr ganz langsam an & wir hatten eine königliche Freude.“
Mit der Zeit wurden die Bahnhofs-​Brüder immer frecher und verwegener. Sie passten immer die Pause ab, wenn „Führer & Heizer in der Restauration beim Schoppen saßen“. Irgendwann passierte es halt doch, dass die Lok nicht rechtzeitig zu stoppen war und das Tor eine Remise eingedrückt wurde. Die Schelte des strengen Vaters muss gewaltig gewesen sein.
Den Lausbubenstreichen nicht genug. Eines Nachts stiegen Otto und August zum den Erdgeschossfenstern hinaus, um einem Güterzug einen Streich zu spielen. Sie zogen die Bolzen und hängten die Sicherungsketten zwischen zwei Waggons aus. Am anderen Morgen wurde dann die Locomotive unter Dampf gesetzt, um den „Lastzug“ das „Thal“ hinab zu befördern. Gespannt warteten die Buben am Fenster was nun passieren sollte. Fauchend fuhr der Güterzug nach dem Signal des Zugmeisters ab. Allerdings zum Vergnügen der Buben nur die eine Hälfte. Der Rest blieb zunächst stehen. Es folgte viel Geschrei und Fluchen. „Dös muß ein Herrgottssakramentskerl gethan haben!“ wetterte der Zugmeister angesichts seines halbierten Güterzugs.
Dieser Herrgottssakramentskerl sollte als geläuterter und fleißiger Kunsthandwerker alsbald eine der größten und erfolgreichsten Silbermanufakturen Gmünds gründen, wobei die Remsbahn eine wichtige Rolle im Leben und in der Arbeit von Otto Wolter spielen sollte. Davon mehr in der nächsten Folge unserer Geschichte und Geschichten rund um Remsbahn und Klepperle.

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