Gmünder Eisenbahngeschichte(n), Teil 5: Das Tor zur Welt und eine abenteuerliche Reise im „Güterzug mit Personenbeförderung“ von Gmünd nach Stuttgart
Schon während des Baus, erst recht natürlich in den Anfangsjahren der Remsbahn, verändert die Eisenbahn ganz rasant die Stadt. Sie sorgt für wirtschaftlichen Aufschwung, wird das Tor zur Welt und sie bestimmt die Biographien von vielen Familien. Von Heino Schütte
Donnerstag, 24. Februar 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
5 Minuten Lesedauer
Lassen wir auch hierzu einfach Otto Wolter erzählen, hier leider — aufgrund des Umfangs seiner Aufzeichnungen — nur einige Ausschnitte: Menschen eilen über die Remsbrücke zum Bahnhof. Ein dicker Wirth ist auch dabei. „Guten Morgen, langt’s noch auf den Zug nach Stuttgart?“ „Ja, da brauchen sie sich nicht zu beeilen, man hört den Zug ja noch gar nicht fahren.“ „So“ ruft der dicke Wirth, „no langt’s noch zu einem Schoppen in der Restauration!“ „Ja, ja, da können Sie noch zwei trinken.“ Endlich, nach geraumer Zeit, ertönt das Zeichen und der Zug fährt ein. Der „dicke Wirth“ steigt ein und setzt sich „grottenbreit“ ins Wagenabteil hinein. Bevor es mit einer halbstündigen Verspätung „lustig das Thal hinuntergeht“, geht es auf dem Gmünder Bahnhof mitsamt den Passagieren noch eine Weile vor und zurück, weil ein Wagen ab– und ein anderer angehängt wird. Das gleiche Prozedere folgt schon nach zehn Kilometern in Lorch. Nächster Halt Waldhausen. Der Stationsmeister ruft zum Zugführer: „Sie müssen noch ein paar Wagen mit Steinen mitnehmen, die untere Weiche hinaus– und wieder zurückfahren.“ Der Zugmeister schreit: „Was, ich bin sowie so zu spät dran, jetzt soll ich auch noch Wagen mitnehmen, da schlag doch gleich’s Donnerwetter nei in so ein G’schäft!“ Und: „Ich will nur sehen, wenn ich heut’ auf Stuagart komm!“ In Plüderhausen werden eine Menge Kisten mit Nudeln verladen. Auch das kostet wieder Zeit. Die Zugbegleiter und die Lokbesatzung müssen Nerven wie Eisenbahnschienen haben, die Reisenden in den Abteilen erst recht, wo bei jedem Rangierstoß das Gepäck durch die Gegend purzelt. In Schorndorf gibt’s sogar einen noch längeren Aufenthalt. Da sieht der „dicke Wirth“ aus Gmünd seine Chance gekommen. Originalbeschreibung dieser Szene — in Sütterlinschrift von Otto Wolter: „Der dicke Wirth fragt den Schaffner, wie lange es dauert, bis man weiter fährt & ob’s vielleicht zu einem Schoppen reiche. Der Schaffner sagt, dass es hier nicht so schnell gehen werde, es gäbe viel zum ein– & ausladen und es würden jedenfalls auch Wagen abgestellt werden; zu einem Schoppen reiche es gut. Als nun alles so weit war, rief der Zugmeister: Wie, ist alles fertig? Nein, nein, es fehlt no einer, der zum Schoppen naus ist, ruft jemand zum Wagenfenster raus. Es geht die Thüre der restauration auf & heraus stürzt der dicke Wirth & sagt: Halt, halt, i muß au no mit. Der Zugmeister ruft: Beinahe wären wir abgefahren, no hättet sie dem Zug nachspringen können.“ Im Abteil gibts dann eine rege Diskussion, weil der Platz für unseren „dicken Wirth“ besetzt ist. Der Widersacher gibt sich zufrieden, weil er neben einem „Jungferle“ sitzen darf. Währenddessen zieht das Dampfross den kombinierten Güter– und Personenzug weiter bis nach Winterbach. Langsam ist der Zugmeister doch mit seinen Nerven am Ende, weil aus Cannstatt telegraphiert wurde, dass er noch einen zusätzlichen Sandwagen anhängen muss. „A siedigs Donnerwetter soll do doch neischlaga!“ ruft er das Rems– in Richtung Neckartal hinab. Nächster Halt: Grunbach, wo „viel Milch für Stuttgart“ verladen werden muss. Dann Endersbach. Dialog zwischen dem „dicken Wirth“ und einem flotten Lederhosenträger im Abteil: „Was, erst in Enderbach sind wir jetzt“, fragt der Gmünder Wirt, „dös goht ja elend langsam“. Der mit der Lederhose erweist sich als Genießer: „Ha, mir goht’s schnell g’nug, i will ja auch fahra für mein Geld & i kann’s scho verwarte, bis i zu dene g’scheite Stuagerter komm.“
Die Fahrgäste werden ungeduldig und erkundigen sich nach der Ankunftszeit. Der Zugmeister will sich nicht genau festlegen, irgendwann zwischen halb eins und eins am frühen Nachmittag, so macht er Hoffnung. Doch auch dieser Zeitplan fällt völlig in sich zusammen, als der Zug in den Bahnhof von Waiblingen einfährt. Und der Telegraph hatte wieder nicht vorgewarnt. Der Zugmeister dreht bei diesem Anblick fast durch und schreit über den Bahnsteig: „Jetzt guck einer no au do na, den Sauhaufa Menschen, die soll i älle mit nach Stuarget nehma, do schlag’ scho glei’s nächste Donnerwetter drin nei! M’r könnt ja moina, m’r seiet blos do, daß m’r Leut umanander führet & hättet sonst gar koi G’schäft!“ Ein Inspektor schaltet sich ein und veranlasst, dass zusätzlich einige Personenwagen angehängt werden. Schließlich will sich die Königlich Württembergische Staatsbahn so kurz vor dem Ziel nicht lumpen lassen und alle wartenden Waiblinger vollends mit in die Residenzstadt nehmen. Dies könnte man also durchaus als Vorläufer der heutigen S-Bahn werten.
Mit viel Glück in drei Stunden von Gmünd nach Stuttgart
Beim Rangieren, Anfahren und Kuppeln gibt’s ruckartige Erschütterungen, so dass die Passagiere teils von den Holzbänken gestoßen werden. Dem „dicken Wirth aus Gmünd“ fällt zu allem Unglück auch noch ein Koffer von der Gepäckablage direkt auf seinen schönen Hut. Jetzt gibt’s richtig Ärger, weil der „dicke Wirth“ auch noch einen blutenden „Flera“ am Kopf beklagt. Der Bahnhofsinspektor wird herbeigerufen, um ein Protokoll anzufertigen. Bei Fellbach und Cannstatt die letzte große Prozedur: Vor der Durchfahrt durchs Stuttgarter Tunell müssen am und im Zug die Laternen angezündet werden.
Laut Fahrplan war der „Güterzug mit Personenbeförderung“ übrigens drei Stunden von Gmünd nach Stuttgart unterwegs, zehn Minuten Aufenthalt an größeren Bahnhöfen einkalkuliert.
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