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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

Gmünder Eisenbahngeschichte(n), Teil 5: Das Tor zur Welt und eine abenteuerliche Reise im „Güterzug mit Personenbeförderung“ von Gmünd nach Stuttgart

Schon während des Baus, erst recht natürlich in den Anfangsjahren der Remsbahn, verändert die Eisenbahn ganz rasant die Stadt. Sie sorgt für wirtschaftlichen Aufschwung, wird das Tor zur Welt und sie bestimmt die Biographien von vielen Familien. Von Heino Schütte

Donnerstag, 24. Februar 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
5 Minuten Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND. Aus heutiger Sicht absolut beschaulich ging zunächst weit im Nordwesten und außerhalb des Stadtkerns der Bahnbetrieb über die Bühne. Doch mit der neuen Eisenbahn begann es in Gmünd verstärkt zu rattern und zu dampfen. Die unübersehbaren Vorzeichen der ganz großen Industrialisierung: Immer mehr Backsteinschornsteine erhoben sich über den Dächern Gmünds und das erste Gaswerk sorgte für einen energietechnischen Quantensprung. Bemerkenswert, wie sich aktuell in der Stadtgeschichte eine Entwicklung wiederholt: Mit Gamundia-​Projekt und Landesgartenschau versprechen die Macher mit Blick aufs „Bahnhofsviertel 2014“ den gleichen Sprung in eine gute Gmünder Zukunft, wie dies in den Erwartungen der Stadtväter schon ab 1860 für den neuen Bahnhof mitsamt Entwicklungsachse Ledergasse nachzulesen ist. Tatsächlich siedelten sich in diesem alten Gerber– und Kutscherviertel im Zuge des Bahnbaus immer mehr Firmen und öffentliche Einrichtungen an. Gut 100 Jahre lang brummte es dort so richtig, weil die Nähe zur Bahnstation mitsamt Güterbahnhof von enormen betrieblichen Vorteilen war. Der Bahnhof ermöglichte auch eine Revolution der Kommunikationsmöglichkeiten, denn er war zugleich auch Telegraphenstation mit blitzschneller Telegrammverbindung entlang der Gleise quer durchs Remstal. Otto Wolter, dem wir im vierten Teil unserer Serie die wunderbar lebendig aufgezeichneten Erinnerungen an seine Lausbubenzeit am Gmünder Bahnhof (sein Vater war dort einer der Vorsteher) zu verdanken haben, war in späteren Jahren als angehender, erfolgreicher Silberwarenfabrikant oft mit der Eisenbahn zum Verkehrsknoten Cannstatt und weiter in die Residenzstadt Stuttgart unterwegs. Im Zug, vielleicht auch an einem Bahnhof, lernte er auf der Remsbahn auch seine Liebste kennen: Josefine hieß sie. Und sie hatte den fortschrittlichen und selbstbewussten Beruf einer Telegraphenassistentin. Da musste es ja zwischen Cannstatt (ihrem Heimatort) und Gmünd (wo Otto Wolter die traditionsreiche Silberwarenmanufaktur gründete) „funken“. In liebevoller und feinsinniger Art und Weise hat Otto Wolter in seinen Lebenserinnerungen auch die Heiterkeit einer abenteuerlichen Eisenbahnfahrt zwischen Gmünd und Stuttgart beschrieben. Ein Unikum: Es verkehrte seinerzeit (um 1865) auch ein „Güterzug mit Personenbeförderung“. Notgedrungen konnten es die Zug– und Lokführer, die Heizer, Wasserwerker und Inspektoren mit dem Fahrplan nicht so genau nehmen. Denn was zu– und abgeladen wurde, das war meist vorher nicht zu kalkulieren. Halbwegs half die Telegraphenleitung, die Ankunftszeiten einigermaßen zu berechnen.
Lassen wir auch hierzu einfach Otto Wolter erzählen, hier leider — aufgrund des Umfangs seiner Aufzeichnungen — nur einige Ausschnitte: Menschen eilen über die Remsbrücke zum Bahnhof. Ein dicker Wirth ist auch dabei. „Guten Morgen, langt’s noch auf den Zug nach Stuttgart?“ „Ja, da brauchen sie sich nicht zu beeilen, man hört den Zug ja noch gar nicht fahren.“ „So“ ruft der dicke Wirth, „no langt’s noch zu einem Schoppen in der Restauration!“ „Ja, ja, da können Sie noch zwei trinken.“ Endlich, nach geraumer Zeit, ertönt das Zeichen und der Zug fährt ein. Der „dicke Wirth“ steigt ein und setzt sich „grottenbreit“ ins Wagenabteil hinein. Bevor es mit einer halbstündigen Verspätung „lustig das Thal hinuntergeht“, geht es auf dem Gmünder Bahnhof mitsamt den Passagieren noch eine Weile vor und zurück, weil ein Wagen ab– und ein anderer angehängt wird. Das gleiche Prozedere folgt schon nach zehn Kilometern in Lorch. Nächster Halt Waldhausen. Der Stationsmeister ruft zum Zugführer: „Sie müssen noch ein paar Wagen mit Steinen mitnehmen, die untere Weiche hinaus– und wieder zurückfahren.“ Der Zugmeister schreit: „Was, ich bin sowie so zu spät dran, jetzt soll ich auch noch Wagen mitnehmen, da schlag doch gleich’s Donnerwetter nei in so ein G’schäft!“ Und: „Ich will nur sehen, wenn ich heut’ auf Stuagart komm!“ In Plüderhausen werden eine Menge Kisten mit Nudeln verladen. Auch das kostet wieder Zeit. Die Zugbegleiter und die Lokbesatzung müssen Nerven wie Eisenbahnschienen haben, die Reisenden in den Abteilen erst recht, wo bei jedem Rangierstoß das Gepäck durch die Gegend purzelt. In Schorndorf gibt’s sogar einen noch längeren Aufenthalt. Da sieht der „dicke Wirth“ aus Gmünd seine Chance gekommen. Originalbeschreibung dieser Szene — in Sütterlinschrift von Otto Wolter: „Der dicke Wirth fragt den Schaffner, wie lange es dauert, bis man weiter fährt & ob’s vielleicht zu einem Schoppen reiche. Der Schaffner sagt, dass es hier nicht so schnell gehen werde, es gäbe viel zum ein– & ausladen und es würden jedenfalls auch Wagen abgestellt werden; zu einem Schoppen reiche es gut. Als nun alles so weit war, rief der Zugmeister: Wie, ist alles fertig? Nein, nein, es fehlt no einer, der zum Schoppen naus ist, ruft jemand zum Wagenfenster raus. Es geht die Thüre der restauration auf & heraus stürzt der dicke Wirth & sagt: Halt, halt, i muß au no mit. Der Zugmeister ruft: Beinahe wären wir abgefahren, no hättet sie dem Zug nachspringen können.“ Im Abteil gibts dann eine rege Diskussion, weil der Platz für unseren „dicken Wirth“ besetzt ist. Der Widersacher gibt sich zufrieden, weil er neben einem „Jungferle“ sitzen darf. Währenddessen zieht das Dampfross den kombinierten Güter– und Personenzug weiter bis nach Winterbach. Langsam ist der Zugmeister doch mit seinen Nerven am Ende, weil aus Cannstatt telegraphiert wurde, dass er noch einen zusätzlichen Sandwagen anhängen muss. „A siedigs Donnerwetter soll do doch neischlaga!“ ruft er das Rems– in Richtung Neckartal hinab. Nächster Halt: Grunbach, wo „viel Milch für Stuttgart“ verladen werden muss. Dann Endersbach. Dialog zwischen dem „dicken Wirth“ und einem flotten Lederhosenträger im Abteil: „Was, erst in Enderbach sind wir jetzt“, fragt der Gmünder Wirt, „dös goht ja elend langsam“. Der mit der Lederhose erweist sich als Genießer: „Ha, mir goht’s schnell g’nug, i will ja auch fahra für mein Geld & i kann’s scho verwarte, bis i zu dene g’scheite Stuagerter komm.“
Die Fahrgäste werden ungeduldig und erkundigen sich nach der Ankunftszeit. Der Zugmeister will sich nicht genau festlegen, irgendwann zwischen halb eins und eins am frühen Nachmittag, so macht er Hoffnung. Doch auch dieser Zeitplan fällt völlig in sich zusammen, als der Zug in den Bahnhof von Waiblingen einfährt. Und der Telegraph hatte wieder nicht vorgewarnt. Der Zugmeister dreht bei diesem Anblick fast durch und schreit über den Bahnsteig: „Jetzt guck einer no au do na, den Sauhaufa Menschen, die soll i älle mit nach Stuarget nehma, do schlag’ scho glei’s nächste Donnerwetter drin nei! M’r könnt ja moina, m’r seiet blos do, daß m’r Leut umanander führet & hättet sonst gar koi G’schäft!“ Ein Inspektor schaltet sich ein und veranlasst, dass zusätzlich einige Personenwagen angehängt werden. Schließlich will sich die Königlich Württembergische Staatsbahn so kurz vor dem Ziel nicht lumpen lassen und alle wartenden Waiblinger vollends mit in die Residenzstadt nehmen. Dies könnte man also durchaus als Vorläufer der heutigen S-​Bahn werten.
Mit viel Glück in drei Stunden von Gmünd nach Stuttgart
Beim Rangieren, Anfahren und Kuppeln gibt’s ruckartige Erschütterungen, so dass die Passagiere teils von den Holzbänken gestoßen werden. Dem „dicken Wirth aus Gmünd“ fällt zu allem Unglück auch noch ein Koffer von der Gepäckablage direkt auf seinen schönen Hut. Jetzt gibt’s richtig Ärger, weil der „dicke Wirth“ auch noch einen blutenden „Flera“ am Kopf beklagt. Der Bahnhofsinspektor wird herbeigerufen, um ein Protokoll anzufertigen. Bei Fellbach und Cannstatt die letzte große Prozedur: Vor der Durchfahrt durchs Stuttgarter Tunell müssen am und im Zug die Laternen angezündet werden.
Laut Fahrplan war der „Güterzug mit Personenbeförderung“ übrigens drei Stunden von Gmünd nach Stuttgart unterwegs, zehn Minuten Aufenthalt an größeren Bahnhöfen einkalkuliert.

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