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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

Dokumentation: Anlässlich des Tunnel-​Durchschlags erzählt der ehemalige Verkehrsstaatssekretär der RZ die wahre Geschichte des Gmünder Jahrhundertprojekts

Nach etwas mehr als zwei Jahren haben es die Tunnelbauer geschafft. Am kommenden Montag wird der Durchschlag für die Hauptröhre des B-​29-​Tunnels zelebriert. Bei allem Respekt für die handwerkliche Leistung: Anlässlich dieses bevorstehenden Feiertags der Mineure blicken wir mit Zeitzeuge Dr. Dieter Schulte zurück auf drei Jahrzehnte der Planung und des Kampfes um dieses Projekt. Von Heino Schütte

Freitag, 25. Februar 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
7 Minuten Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND. Wie war das eigentlich mit dem Tunnel? Warum hat das damals so ewig bis zu Entscheidungen und Spatenstichen gedauert? Ältere Gmünder erinnern sich: Da war die jahrelange Hängepartie mit Streit zwischen Land und Bund über die Finanzierung des aktuell gegenwärtig teuersten Straßentunnels Deutschlands. Auf des Messers Schneide stand er immer wieder. Eine Gmünder Glaubensfrage wurde daraus. Ungeduldig wurden alternative Überlegungen für eine schnellere und vielleicht sogar ökonomisch sinnvollere Variante eines oberirdischen Ausbaus einer Gmünder Ortsdurchfahrt formuliert. Doch hartnäckig blieb er dran. Er, der wohl geduldigste Mineur beim Gmünder Tunnelbau, der seine Betonpfähle und Sprenglöcher für das Jahrhundertprojekt
nicht unter Rems und Lindenfirst, sondern zunächst auf den politischen Baustellen in Bonn und bei der Auftragsverwaltung in Stuttgart setzen musste. Zum bevorstehenden Tunneldurchbruch erzählte uns Dr. Dieter Schulte die teils kurios anzusehende wahre Geschichte, wie es ihm in seiner Rolle als heimattreuer Remstal-​Verkehrspolitiker im fernen Bonn gelang, den politischen Durchschlag für den bundespolitisch höchst komplizierten Tunnel zu bewerkstelligen.
Die ersten abenteuerlichen Berührungen des wissbegierigen Pennälers mit der Verkehrspolitik
Ganz am Anfang der späteren bundespolitischen Karriere steht da ein 16-​jähriger Junge, geboren am 9. Juni 1941 in Schwäbisch Gmünd. Wissensdurstig, lernbegierig. Er will was von der großen weiten und vor allem von der neuen Welt (Amerika) sehen. Dem Gymnasiasten und beliebten Schülersprecher vom Pennäle (Parler-​Gymnasium) fehlt aber das Geld. Schmunzelnd erzählt Dieter Schulte von seinen ersten verkehrstechnischen Berührungen, nämlich mit alten, verrußten Zündkerzen, die er schon als Kind und mit der Familie daheim (später Autoteile Schulte) schrubbte und mit Säurebädern behandelte, um bescheiden ein paar Mark für den Familienunterhalt zu verdienen. Dann bekam er als Jugendlicher einen Job als Kegeljunge, um sich damit tatsächlich seine erste eigenen Groschen zu sparen. Die brauchte er dringend für eine erträumte Schiffspassage nach Amerika. Fliegen war damals in den aufkeimenden Wirtschaftswunderjahren nur was für Superreiche. Der junge Gmünder bekam ein Stipendium von der Schüleraustauschorganisation American Field Service: Ein Jahr an der Highschool mit Familienanschluss in Cedar Rapids, Bundesstaat Iowa, also mitten in Amerika. Mit dem Zug ging’s nach Rotterdam, dann zwei lange Wochen auf einem umgebauten Frachter über den Atlantik, schließlich zwei Tage mit dem Bus nach Iowa. Wenn schon allein das kein Praktikum für den späteren Verkehrspolitiker sein sollte! Zurück nach Deutschland mit nun perfekten englischen Sprachkenntnissen. Ein Jahr am Parler-​Gymnasium übersprungen. 1960 baut der junge Schulte sein Abitur und studierte anschließend in Heidelberg, Berlin und Würzburg, auch an der Sorbonne in Paris, wohin ihn ein Stipendium brachte. In Frankreich widmet sich der angehende Jurist und Volkswirtschaftler seiner Doktorarbeit: „Internationales Wirtschafts– und Privatrecht“. Der Student arbeitet währenddessen gerne als Reiseleiter für amerikanische Touristen. Die Grundsteine fürs politische Interesse, so meint er nachdenklich, seien bei Aufenthalten in Berlin angesichts der Teilung der Stadt gelegt worden: Mauerbau, Schießbefehl an der Grenze mitten in Deutschland, die Konfrontation zweier Staatssysteme, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Der junge Dieter Schulte sieht in der CDU seine politische Heimat und ein Handlungsfeld, um sich für eine gute Zukunft seines Landes zu engagieren Er tritt 1964 in die Junge Union ein. Schon wenige Jahre später die Sensation: Mit nur 28 Jahren zieht er als Nachfolger von Dr. Gerstenmaier für den Wahlkreise 175 als allerjüngster Abgeordneter in den Deutschen Bundestag ein, nur wenig älter sind seine damaligen „Schicksalsgenossen“ Volker Hauff aus Esslingen und Björn Engholm aus Lübeck. Und alle sollten sie beachtliche Karrieren hinlegen. Zunächst aber ein ganz profan-​herzlicher Abschied am Bahnhof bei der ersten Reise Schultes zu seinem noch völlig unbekannten Dienstsitz nach Bonn. Die Mutter ruft ihm nach: „Bua, mach’ do fei bloß koin Scheiß!“
Nun, schon allein angesichts des Gmünder Tunnels dürfte sie im Nachhinein keinen Grund haben, ihren Buben zu schimpfen. Die ersten Wochen in Bonn sind für den jungen Mann natürlich nicht ganz einfach. Es gilt, sich in diesen Welten des eigenwillig-​fremden Bundestags-​Kosmos zu orientieren, sich sinnvoll zu platzieren. Vom Geschäft seines Vaters und der Lage seines Elternhauses direkt an der B29 ausgehend, glaubt er, Verständnis und Wissen für das Ressort „Verkehr“ mit im Reisegepäck zu haben. Also lässt er sich Schulte von seiner Fraktion in den Verkehrsausschuss des Bundestags wählen. Sein verkehrspolitisches Fachwissen wächst. Er wird Sprecher seiner Fraktion und Mitglied im Fraktionsvorstand.
Schließlich die Berufung des Gmünder Bundestagsabgeordneten zum Parlamentarischer Staatssekretär im Verkehrsministerium. Mit der Zeit wurde er Vertrauter von Bundeskanzler Helmut Kohl, an dessen Seite er später ganz unmittelbar die Zeitenwende und jene atemberaubenden Jahre erleben durfte, die von Deutschland aus die Welt bewegten.
Von Bundeskanzler Kohl schwärmt er noch heute: Dessen Geradlinigkeit, immer das Ziel der deutsch-​deutschen Wiedervereinigung vor Augen, verbunden mit väterlicher Vertrauenswürdigkeit habe den Erfolg des Zusammenwachsens in Europa maßgeblich mitgetragen. Ein wörtliches Zitat des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow über Helmut Kohl hat Dieter Schulte immer noch im Ohr: „Ich wusste gar nicht, dass Deutsche auch eine Seele haben!“ Und genau so sei Helmut Kohl auch allen Regierenden gegenübergetreten, um auf das Ende des seelenlosen Eisernen Vorhangs quer durch Deutschland hinzuwirken.
Dieter Schulte arbeitet — von Helmut Kohl eingesetzt — mit insgesamt vier Verkehrsministern zusammen: Werner Dollinger (CSU), Jürgen Warnke (CSU), Friedrich Zimmermann (CSU)und zuletzt Günter Krause (CDU. Letzterer kommt als Neuling aus dem Osten. Kein Geheimnis sind heftige Turbulenzen, die sich im „Hause Krause“ abspielen. Schulte verliert hierzu nicht viele Worte, beschreibt lieber, wie er unter allen Chefs gleichermaßen am Ausbau „seiner“ B 29 daheim im Remstal gefeilt hat.
Wie ein roter Faden zieht sich das Ansinnen einer leistungsfähigen „Remstalautobahn“, die früher nur eine lebensgefährlich kurvige und enge „Landstraße“ zwischen Stuttgart und Schwäbisch Gmünd war, durch seine acht Wahlperioden (1969 bis 1998). Übrigens: Nur Hans-​Dieter Genscher war länger Abgeordneter. Dann in den 70er-​Jahren der Durchbruch. Der B 29-​Ausbau von Stuttgart nach Osten wird endlich ins detaillierte Bundesfernstraßenprogramm aufgenommen. „Die wirtschaftliche Entwicklung hängt ganz entscheidend davon ab, wie schnell der Ausbau dieser Verbindung nach Stuttgart erfolgt“, mahnt immer und immer wieder Oberbürgermeister Norbert Schoch. Eine von der Rems-​Zeitung initiierte Bürgerdemonstration nach und durch Stuttgart mit mehr als 1000 Teilnehmern hatte den Druck auf die Politik enorm erhöht. Abschnittsweise rückt die „Remstalautobahn“ nun näher an Schwäbisch Gmünd heran.
Die Stadt beginnt schon ab etwa 1975 darüber nachzudenken, welchen Trassenverlauf die Bundesstraße durch Schwäbisch Gmünd nehmen soll. Die Gmünder Stadtväter verwerfen alle zunächst ins Auge gefassten weiträumigen Umgehungstrassen sowie Tief– und Hochstraßenideen und nageln um 1980 das Projekt eines Tunnelbaus durch den Lindenfirst, den so genannten „Tunnel in Tallage“ fest. Dieter Schultes erster Eindruck: „Eine kühne Idee. Wie soll das nur gelingen?“ Dann die ersten Kostenkalkulationen. Sie belaufen sich auf 70 Millionen Mark (umgerechnet 35 Millionen Euro). Eine furchterregende Summe damals, die bekanntlich auf letztendlich 240 Millionen Euro explodieren sollte. Dazu muss sich sich der Verkehrsstaatsekretär aus Schwäbisch Gmünd in Bonn tagtäglich wachsende Bedarfslisten aus allen Bundesländern, übrigens auch aus Baden-​Württemberg, vor Augen halten. Programme mit Dringlichkeitsstufen werden erstellt und fortgeschrieben. Augenzwinkernd erzählt Schulte: Die 70 Millionen Mark Baukostenkalkulation blieb über viele Jahre hinweg festgezurrt: „Neuberechnungen gab es einfach nicht.“ Alles andere hätte das von den Gmündern extrem hochgesteckte Projekt schon frühzeitig sterben lassen. Die Crux: Zeitgleich hat der Gemeinderat angesichts der ersten Vorentwurfspläne ziemlich schockiert auch die Forderung zur absoluten Bau-​Bedingung erhoben, keinesfalls eine Durchquerung des Leonhardsfriedhofs durch die Tunneltrasse zuzulassen. Jetzt wird also dem Gmünder MdB auch noch die millionenschwere Nachbesserung mittels Verlegung bzw. Bau eines neuen Remskanals und Konstruktion des kurvigen Tunneltrogs, fast mitten in die Stadt hinein, aufgeschultert. Dies macht das Vorhaben also noch komplizierter. Dazu kommt später auch noch die erdrückende Konkurrenz durch das Aufbauprogramm für den Osten Deutschlands.
Der zweite wichtige Punkt, um die Tunnel-​Vision dennoch nicht sterben zu lassen: Dieter Schulte traf mit den Verkehrsministern die vorsorgliche Absprache: Es habe angesichts des Ansturms und Anhäufens von Wunsch– und Neubauprojekten keinen Wert, einen Spatenstich nach dem anderen folgen zu lassen. Prinzip: Begonnene Maßnahmen werden zuvorderst zu Ende geführt. Dieter Schulte spürt, dass die Finanzierungsbedingungen immer enger werden und die Zeit drängt. Aus dem Jahr 1989 stammt der Tunnel-​Vorentwurf, 1997 erst folgte die Rechtskraft der Planfeststellung. Am 18. September 1998 dann das historische Datum des ersten Spatenstichs für vorbereitende Bauwerke, nur ein knappes Jahr nach der Rechtskraft, was ein bemerkenswertes Tempo ist. Doch der Feier folgte prompt der Katzenjammer: Jahrelang kommt die Baustelle ins Stocken. Und erst nach einem zähen Ringen mit vielen Rückschlägen im Streit zwischen Land und Bund wird dann am 3. August 2006 und „mit Hilfe vieler Kräfte“, so betont Schulte, die „begonnene Maßnahme“ mit einem weiteren Startschuss fortgesetzt.
Ende 2012 Jahr und somit erst zwölf Jahre nach Baubeginn wird das Werk vollbracht sein.
Was nun zwischen all diesen Jahren und Daten hinter den Kulissen alles verhandelt und gestritten wurde („Kollege Robert Antretter hat immer mitgezogen!“), darüber schwieg sich Dieter Schulte bislang aus. Auf Nachfrage rückt er mit den Geschehnissen jener Tage heraus, um die seidenen Fäden, an denen das Projekt hing, darzustellen. Immer und immer wieder sei der Gmünder Tunnel auf der Kippe gestanden, auch als klar wurde, dass die Röhre sicherheitstechnisch so gar nicht mehr gebaut werden durfte, wie zunächst etwas naiv vorgesehen. Die furchtbaren Brandkatastrophen in Straßentunneln mit Gegenverkehr in den Alpen bilden den Ausschlag für Nachrüstung mittels eines Fluchtstollen-​Systems.
Deutsche Hochseeschifffahrt und der Gmünder Tunnel bilden plötzlich Schicksalsgemeinschaft
Inmitten der Antworten setzt dann Dieter Schulte sein berühmtes knitzes Lächeln auf, als der kuriose Hinweis plötzlich im Raum steht: Die Deutsche Hochseeschifffahrt sei vor 15 Jahren eng mit dem Schicksal des Gmünder Tunnelbaus verknüpft gewesen. Doch, dass könne man durchaus so zum Ausdruck bringen. Für Dieter Schulte ist das nach wie vor jener Punkt, als er im letzten Jahr seiner Amtszeit mit seinem Votum bei einer wichtigen Abstimmung und bei nur einer Stimme Mehrheit im zuständigen Ausschuss des Bundestags das sprichwörtliche „Zündlein an der Waage“ spielen konnte. Es ging um die Entscheidung von steuerlichen Erleichterungen und damit um die Bestandssicherung der Deutschen Hochseeschifffahrt, die Woche für Woche wegen steuerlichen Benachteiligungen gegenüber der weltweit wachsenden Konkurrenz fast schon dem Niedergang geweiht war. Schulte setzt an jenem Tag alles auf eine Karte: Ja, er werde zugunsten der Reedereien stimmen, aber nur unter der Bedingung, dass grünes Licht für die Mittel zugunsten des ersten Bauabschnitt „B 29 Ortsumgehung Schwäbisch Gmünd“ gegeben wird. „Bevor ich gehe, will ich die begonnene Maßnahme und damit den Weiterbau des Tunnels festmachen“, erinnert sich Schulte an sein Tun am Ende seiner letzten Wahlperiode. Die Vereinbarung funktionierte.
Dem Chronisten fällt eines auf: Als am 18. September 1998 der alsbaldige Pensionär Dr. Dieter Schulte nachdenklich den ersten Spatenstich für den ersten Abschnitt der „B29-​Ortsumgehung Schwäbisch Gmünd mit Tunnel in Tallage“ beobachtet, hat er als einziger in der großen Festgesellschaft einen Regenschirm bei sich. Schulte weiß zu diesem Zeitpunkt: Auf dem Weg zum eigentlichen Tunnelanschlag (Herbst 2008) würde es für seine Nachfolger noch einige politische Unwetter mit Wolkenbrüchen und Hagelschlägen zu bewältigen geben.
Dieter Schulte betont: „Doch das Wichtigste damals war: Wir Gmünder hatten den Fuß einer begonnenen Maßnahme in der Tür, die für den Tunnelbau fortan nicht mehr zugeschlagen werden konnte.“

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