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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

Erstmals gibt’s im Kreis eine Berufsvorbereitende Einrichtung für Menschen mit Behinderung

Keiner hat gesagt, dass es einfach wird. Aber Heike Bareiß ist froh, dass ihr diese Aufgabe anvertraut wurde: Für sie gibt es wenig so Lohnendes wie Möglichkeiten zu suchen, Menschen mit Behinderungen für den allgemeinen Arbeitsmarkt zu qualifizieren.

Dienstag, 17. April 2012
Rems-Zeitung, Redaktion
4 Minuten Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND (bt). Eigentlich hat’s mit Michael begonnen. Seine Lehrerin Heike Bareiß, seit 14 Jahren an der Klosterbergschule, Schule für Geistig– und Körperbehinderte, dachte vor rund sieben Jahren wieder einmal, dass einer der Jungs „kognitiv eigentlich zu fit war für eine Arbeit in den Vinzenz von Paul-​Werkstätten der Stiftung Haus Lindenhof.“ Michaels Leben war bis dato schwierig gewesen. In Stuttgart konnte er auf Grund seiner Verhaltensauffälligkeiten an der Grundschule nicht bestehen, weitere Durchgangsstationen waren die Schule für Erziehungshilfe und die Förderschule. In der Klosterbergschule schließlich wurde er auf ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-​Hyperaktivitäts-​Syndrom) untersucht, was auch diagnostiziert und therapiert wurde. Zunehmend zeigte sich dann ein wacher Geist, ein zielstrebiger, freundlicher, leistungsbereiter junger Mann, der aufblühte, wenn ihm etwas zugetraut wurde.
Er wolle arbeiten, verkündete er eines Tages. Am liebsten etwas mit Garten und Tieren, und er werde sich selbst drum kümmern. Er rief dann auch in einem Gartencenter an, sicherte sich ein vierwöchiges Praktikum, organisierte die täglichen Busfahrten und überraschte damit, dass er diese vier Wochen durchstand. Dann erklärte er, so ganz das Richtige sei das nicht; jetzt wolle er in eine Bäckerei reinschnuppern. Nach ersten Erfahrungen in einem anderen Betrieb gab ihm die Bäckerei Berroth auf dem Gügling eine Chance. Chef Manfred Berroth: „Er brachte ja Vorkenntnisse mit und hat sich gerade am Anfang besser angestellt, als manch anderer Auszubildende.“ Wieder stand er das Praktikum durch. Von der Schulbank weg acht Stunden täglich in der Backstube zu sein, an Rückenschmerzen zu leiden vom ungewohnten Stehen, vom Schaffen eben, ist auch für einen 17-​Jährigen ohne Behinderung eine echte Herausforderung. Aber Michael machte sich Tag für Tag mit dem Fahrrad auf den Weg, im Sommer wie im Winter, um immer früher mit der Arbeit zu beginnen – das hat Manfred Berroth wirklich beeindruckt. Morgens um 3 Uhr durch tiefen Schnee zu radeln, um pünktlich anfangen zu können, dabei nicht einen Tag zu fehlen, zeuge von sehr seltenem Engagement. Chef und Kollegen haben Michael von Anfang an als vollwertigen Mitarbeiter akzeptiert und gelegentliche Verhaltensauffälligkeiten mitgetragen, wenn er ungehalten wird etwa. Denn von Anfang an war auch klar: Er ist hoch motiviert, und er will arbeiten. Es war nicht immer leicht für Michael, aber längst hat er einen unbefristeten Vertrag, eine eigene kleine Wohnung in Bettringen, und er sagt, dass es ihm richtig gut geht. Er spielt Fußball und singt im Schulchor Tiramisu, wo er auch als ehrenamtlicher Helfer tätig ist und wo man ihm eine sehr schöne Bass-​Stimme bescheinigt.
Chef Manfred Berroth hat nie bereut, ihn eingestellt zu haben. Er ist einer, der nicht gerne aufgibt, und der findet, dass jeder eine Chance verdient hat. Wenn ein Betrieb entsprechend breit gefächerte Arbeiten anzubieten habe, also auch einfachere Tätigkeiten, könne er nur empfehlen, auf einen wie Michael zu setzen – der im übrigen mittlerweile ebenso selbstverständlich Brezeln schlingt wie er Brot und Kuchen einschießt und ausbackt.
Immer mehr Schüler konnten sich mit der Zeit vorstellen, einen ähnlichen Weg zu gehen. Nicht nur Michael war Pionier, auch Moritz, der bei der Firma Leicht in Waldstetten Arbeit fand: Nach vier Wochen in der Lehrlingswerkstatt durfte er sich in fast allen Abteilungen bewähren, wurde schließlich vor allem in der Kommissionsabteilung eingesetzt und ebenfalls übernommen. Sascha freut sich mittlerweile auch an einem Praktikum bei Berroth. Der 20-​Jährige gibt zu, dass er sich manchmal schwer tut mit dem Aufstehen, dass er nach einem Arbeitstag „schlapp“ ist — meint aber eben auch, dass das ein ganz anderes Leben sei.
Vom Einzelfall zur
organisierten Förderung
Irgendwann habe sie „Blut geleckt“, erinnert sich Bareiß lächelnd: Diese ganz besondere Zusammenführung von Betrieben und Schülern mit Behinderung bringe allen Beteiligten neue Impulse und Perspektiven. Zum einen sind da ihre Schüler, von denen sie sagt, dass sie bei allen kognitiven Einschränkungen, die’s nun mal gibt, Schlüsselqualifikationen mitbringen: Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Ausdauer und Flexibilität, um nur einige zu nennen. Vor allem anderen die hohe Motivation: „Sie wollen wirklich arbeiten, unbedingt.“ Diese Schüler wünschten sich die Teilhabe am normalen Berufsleben und seien bereit, sich den für sie hohen Anforderungen eines Betriebes zu stellen, in der Hoffnung, irgendwann „wie alle anderen“ leben zu können. Zum anderen gab und gibt es Betriebe, die noch nie mit Menschen mit Behinderung gearbeitet haben. Wer diese Herausforderung angehe, ist sich Heike Bareiß sicher, „bereut es nicht“: „Ich hab noch nie erlebt, dass die Firmen enttäuscht waren“; dazu sei die Arbeitsleistung zu groß, die Zuverlässigkeit ihrer Schützlinge zu überzeugend. Eine reguläre Ausbildung ist für diese Schüler nicht zu leisten, und die Langzeitpraktika münden nur in eine „Helfertätigkeit“ — aber diese eröffnet den jungen Leuten den Weg in ein wesentlich selbstbestimmteres Leben.
Als das Staatliche Schulamt Göppingen an die Klosterbergschule mit dem Anliegen herantrat, gemeinsam mit Kooperationspartnern eine BVE (Berufsvorbereitende Einrichtung) einzurichten, die es bis dato im Ostalbkreis noch nicht gab, um Menschen mit Behinderungen für den ersten Arbeitsmarkt zu qualifizieren, rannte man bei der Schulleitung offene Türen ein. Natürlich hat auch Heike Bareiß, die ihrer Erfahrung wegen gefragt wurde, mit beiden Händen zugegriffen, und seither ist der Schulversuch ein Selbstläufer.
Nicht nur die nunmehr 40-​Jährige setzt sich ein. Mit ihr arbeiten Thomas Graf, Jochen Berger, Fachlehrer an der Martinus-​Schule, sowie Ralf Hager von der Johannes-​Landenberger-​Schule, einer privaten Sonderberufs– und Sonderberufsfachschule, die beim Berufsausbildungswerk in der Gmünder Oststadt zu finden ist; in dieser konzeptionell beteiligten Berufschule bringen die Unterrichtenden Sonderschulerfahrung mit. Mit im Boot sind Förderschulen wie die Pestalozzischule und die Mörikeschule in Heubach, Landratsamt, Stadtverwaltung, Schulamt, die Arbeitsagentur, der Kommunalfachverband für Jugend und Soziales Baden-​Württemberg, der Integrationsfachdienst – hier macht sich vor allem Michael Stein um die Praktikumssuche verdient – und natürlich in erster Linie die Betriebe. Denn ohne ein Praktikum laufen alle begleitenden Maßnahmen, alle pädagogischen Bemühungen ins Leere: die Unterrichtsmodule, die das Erwachsenenleben zum Thema haben, der Berufschulunterricht, der Basiskompetenz in Sachen Holz, Metall, Gastro, Farbe, Reinigung oder auch Gartenbau vermittelt, sowie die Arbeitsprojekte, in denen Ausdauer, Motivation, Sorgfalt, aber auch Team– und Konfliktfähigkeit geschult werden.
Die jungen Leute, die sich im BVE auf ein Leben als Erwachsene vorbereiten, die darauf hoffen, in den ersten Arbeitsmarkt entlassen zu werden, haben vieles gemeinsam: Hohe Eigenmotivation ist Voraussetzung für die Aufnahme ins Projekt, schulinterne Vorbereitung, erfolgreiche berufliche Vorpraktika, Mobilität im Straßenverkehr und Unterstützung durch das soziale Umfeld – die Familie also, oder eine Wohngruppe. Vor allem aber verbindet sie eines: Sie leben mit einer Behinderung, und andere Maßnahmen beruflicher Bildung sind ungeeignet. Entweder sie erfahren besondere Förderung, oder sie schaffen es nicht.

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