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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

Marginalie: Die ganz normale Zeitenwende

In den USA ist das vielleicht bald Geschichte, Europa stellt zu Sonntag dagegen sicher nicht zum letzten Mal die Uhren um. Warum Sommer– wie Winterzeit in der EU ihre ganz bestimmten Fans haben und was Mark Forster damit zu tun hat, verrät die Marginalie der Rems-​Zeitung.

Samstag, 26. März 2022
Benjamin Richter
2 Minuten 21 Sekunden Lesedauer

Eine eingespeicherte Telefonnummer verbraucht auf dem Handy nur wenige Bytes. Mal angenommen, man würde auf sämtliche Apps, Fotos, Podcasts und weitere Speicherplatzfresser verzichten – von denen wir, Hand aufs Herz, sowieso viel mehr in der Hosentasche herumtragen als wir brauchen: Man könnte auf einem heutzutage handelsüblichen Gerät einige Millionen Kontakte mit Namen und Nummern einspeichern. So viele Leute kennt zwar selbst in unserer hypervernetzten Welt kein Mensch. Aber sollte morgen doch wider Erwarten Württemberg geschlossen vor Ihrer Haustür Schlange stehen, trägt die Speicherplatz-​Ausrede nicht.

Wie lange Mark Forster bräuchte, um „die ganzen Namen“ in seinem Handy anzurufen, lässt sich daher nur mutmaßen. Sicher überliefert ist nur, dass der Pfälzer Popkünstler um drei Uhr nachts genau damit beschäftigt ist, was wir aus seinem gleichnamigen Song wissen. Damit ist auch klar, dass er, um um Punkt drei einen schlaftrunkenen Bekannten an den Apparat zu bekommen, an diesem Sonntag spätestens um 1.59 Uhr in die Tasten hauen müsste. Denn bekanntlich wird uns dieses Wochenende die im Herbst wohlig verpennte Extra-​Stunde wieder „gestohlen“ – Anzeige bei der Polizei leider zwecklos.

Für den Deutschen ist die Zeitumstellung unter den sich alljährlich wiederholenden Bräuchen und Riten das, was unter den Städten laut übereinstimmenden Internet-​Quellen Duisburg ist: abgeschlagenes Schlusslicht auf der nach unten offenen Beliebtheitsskala. Andersherum ausgedrückt: Ohne sich dem Verdacht der Wahlfälschung aussetzen zu müssen, erzielt die Abschaffung der Zeitumstellung bei Umfragen regelmäßig höhere Zustimmungswerte als Angela Merkel in ihren besten Zeiten im eigenen Wahlkreis. Nach einer hitzigeren Phase in den Jahren 2018 und 2019 ist die Debatte um das Thema inzwischen zu ihrem naturgemäßen Rhythmus zurückgekehrt und wird wie gehabt zweimal im Jahr von Presse, Funk und Fernsehen aufgekocht.

Nicht immer erscheint die Stippvisite im Rampenlicht inhaltlich gerechtfertigt. Dieses Jahr schon, denn es gibt tatsächlich Neuigkeiten, und zwar aus den USA: Dort hat der Senat, der in ganz groben Zügen unserem Bundesrat mit aus den Ländern entsandten Vertretern entspricht, in der vergangenen Woche einstimmig ein Gesetz zur Einführung einer ganzjährig einheitlichen Zeit verabschiedet. Denn auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten kommen die Menschen bislang nicht darum herum, zweimal im Jahr am Uhrwerk zu drehen oder darauf zu hoffen, dass sich die Digitalanzeige am Herd – das ist doch eine Funkuhr? – von selbst umstellt. Beschlossen ist damit jedoch noch nichts, denn zur Einführung benötigt die „Immer-​Zeit“ noch die Zustimmung des Repräsentantenhauses und von Präsident Joe Biden.

In der EU sollte nach Plänen der damaligen Kommission eigentlich auch schon 2019 mit der Umstellerei Schluss sein. Doch bis heute haben sich die 27 Mitgliedsstaaten nicht darauf einigen können, ob in Zukunft für immer Sommer– oder Winterzeit herrschen soll. Die Chancen, dass das mit einer überdimensionierten mitteleuropäischen Zeitzone, die über fast 3000 Kilometer von Warschau nach Santiago de Compostela reicht, noch gelingen wird, sind gering: Der Sonnenaufgang um drei Uhr bei ewiger Winter– oder Normalzeit ist in Polen ebenso unbeliebt wie jener um 9.30 Uhr bei ewiger Sommerzeit in Spanien. Und nun? Vielleicht hat ja Mark Forster eine Idee – und früher oder später wird er bestimmt auch bei mir anrufen.

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