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Beethovens „Fidelio“: Spagat zwischen Anspruch und Respekt

Marcus Bosch als neuer künstlerischer Leiter der Opernfestspiele Heidenheim bot nach „Tosca“ 2010 in diesem Jahr Beethovens einzige Oper „Fidelio“ in einer in jeder Hinsicht bemerkenswerten Aufführung.

Dienstag, 12. Juli 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
2 Minuten 37 Sekunden Lesedauer

OPER (-ry) Nur einmal zwang kurzer Regen die Unterbrechung des Gefangenenchores. Sein Optimismus gab dem Dirigenten Recht: Die Aufführung in der Schlossruine Hellenstein konnte fortgesetzt werden.
Es gibt wenige Opern, deren Inhalt und Gehalt beispielgebend von Rang sind. Vieles Belanglose überlebte nur durch die gute Musik. Anders bei Beethoven. Sein engagiertes Ringen, bis die letzte Fassung gelungen war, das humane Ethos von der Macht selbstloser Liebe, die jede Tyrannei besiegt — das alles verlangt von den Aufführenden den Spagat zwischen Anspruch und Respekt.
Die Heidenheimer Inszenierung hat es nicht leicht. Sie muss sich mit den offenkundigen Raummängeln der Ruine auseinandersetzen (das Verlies „auf“ der Bühne, deshalb die herauf steigenden Rocco und Fidelio …). Sie zeichnet sich aber durch stringente Einheit der Gestaltenden aus. Diese muss einem nicht immer zusagen, aber auch die herbeste Kritik kommt nicht umhin, die Intentionen mit Respekt zu würdigen. Dies beginnt bereits damit, dass besonders die Dialogregie in besonnener Ruhe gelang. So überzeugten die Gedankenentwicklungen der Akteure umso mehr.
Die Symbolik ging von der richtigen Vorentscheidung aus, das Drama historisch nicht einzuengen, sondern die Komplexität als „Chiffre der modernen Welt“ (Regisseur Hermann Schneider) gegen alle Ideologisierungsgefahr zu etablieren. Deshalb die Farbe Weiß für alle auch weiß gepuderten Gefangenen, das von Blut befleckt bemalte große (Leichen-)Tuch, das im ersten Akt die weißen Toten-​Skulpturen verdeckte und im zweiten Akt symbolträchtig als Fahne hochgezogen war, später als Leinwand für projizierte Zeitgenossen tyrannischer Gewalt(herrschaft). Ebenso die Doppeldeutigkeit eines roten Containers in beiden Akten: Haus des Kerkermeisters Rocco, später die (grell erleuchtete) Gefängniszelle Florestans. Und wenn Leonore und später der Minister auf dessen Dach stehen, dann potenziert deren halsbrecherisch gefährliche Postierung (samt gefährlichem Herunterspringen der Leonore) die Bedeutung ihres Tuns. Ebenso gefährlich der auf der Mauer postierte Soldat mit MP im Anschlag. Als die Gefangenen in den Kerker zurückkehren, ertönt periodisch wiederholt Sirenenklang (das gleichzeitig vernehmbare Martinshorn in der Stadt unten war wohl eher Zufall — aber nicht ohne Wirkung). Die Lichtregie tat ein Übriges zur Zentrierung der Handlung. Die Grenzen: Warum muss die immer selbstbeherrschte Leonore wiederholt mit gezielter Pistole agieren, selbst gegen den ihr stets wohlgesonnenen Rocco? Ein Haufen von Schuhpaaren muss weggeräumt werden: das mühsame Ausheben des Grabes symbolisierend. Warum schneidet sich Marzelline nach der Selbstoffenbarung Fidelios als Leonore ihren eigenen Zopf ab? Der unverzeihliche Gipfel: dass einige Soldaten versuchten, sich an Marzelline zu vergehen. Beethoven würde sich angesichts des derartig gepressten Willkür-​Missgriffs im Grabe umdrehen! Ohne Einschränkungen gilt das Lob den musikalischen Akteuren: Marcus Bosch dirigierte (ohne die bei Kollegen öfter zu beobachtenden Mätzchen) präzis, animierend, motivierend, fordernd. Er ließ den Solisten vokal als auch instrumental die nötige Freiheit interpretatorischer Entfaltung. So blieb die ganze Aufführung voll innerer Spannung und gezielter Höhepunkte: alles ganz folgerichtig und natürlich.
Die solistischen Haupt– und Nebenrollen waren gut besetzt, wenngleich das Publikum die Qualität der Leistungen nicht immer gerecht würdigte. Dass Leonore (die vorzügliche Martine Reyners mit ausgezeichnetem Mezzo-​Timbre) oder der souveräne Heldentenor Vincent Wolfsteiner kräftigen Beifall mit Bravo-​Rufen erhielten, belegt treffend deren herausragende Leistung (es bleibt das an Sadismus grenzende Geheimnis der Regie, dass der bedauernswerte Sänger vor Beginn des zweiten Aktes über eine halbe Stunde barfuß in seiner Container-​Zelle liegend kauern musste). Kerkermeister Rocco (Marek M. Gastecki), der Gouverneur Don Pizarro (Johannes von Duisberg), der etwas sperrig geforderte Jaquino (Christoph Wittmann), vor allem aber die fantastische Marzelline (Antonia Bourvé) hätten denselben begeisterten Applaus verdient gehabt.
Die kurze Rolle des Don Fernando (Karl-​Friedrich Dürr), der wie die von Edgar Hykel bestens einstudierten Stuttgarter Choristen zum bewährten „Inventar“ der „OH!“ gehören, wie auch die chorischen Nebenrollen der Gefangenen taten ein Übriges zum gelungenen Gesamteindruck. Beethovens Werk erfuhr so eine insgesamt beeindruckende Würdigung. Das Publikum war begeistert.

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