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Cem Özdemir über die „verlorene Generation“

Kämpferisch und ernsthaft präsentierte sich Cem Özdemir im vollen Bilderhaus dem interessierten Publikum. Seine Kernthese: „Keine Lösung innerhalb der Grenzen der Nationalstaaten.“ Staatverschuldung, Investitionsstau und Klimawandel sind bekannterweise die größten Brocken, die es europaweit anzupacken gilt.

Donnerstag, 27. März 2014
Rems-Zeitung, Redaktion
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GESELLSCHAFT (brd). Besonders die jungen „bestausgebildeten“ Spanier seien mit einer Arbeitslosenquote von fast 50 Prozent die Leidtragenden. Was bei uns nach dem Zweiten Weltkrieg galt, nämlich „über Bildung zu Wohlstand“, führe bei ihnen „ins Nichts“. Ein „Nasenwässerle“ von 137 Euro pro Kopf aus der Jugendbeschäftigungsinitiative der EU helfe da nicht viel und die Gefahr, in extremen Parteien Abhilfe zu suchen, sei groß, wie das Beispiel Griechenland beweise.
Jahrzehnte etablierte Parteien der Mitte „erodieren“ und erreichten junge Wähler nicht mehr. Viele Parteien hätten sich auch als korrupt erwiesen, neue Konstellationen hätten keine Besserung gebracht. Politik werde nicht mehr als Lösungshebel angesehen. Viele gingen erst gar nicht zur Wahl, weil die Zukunft ganz woanders, nämlich beispielsweise in Berlin, entschieden werde, was oft demütigend wirke.
Hart ging Özdemir mit der jetzigen Großen Koalition ins Gericht. Mütterrente (CDU) und Rente mit 63 (SPD) sah er als „Klientelpolitik“, deren immense Kosten jede zukünftige Regierung belasten werde. Steuergelder, die in der Schuldentilgung landen, verursachten einen Investitionsstau, den er am Beispiel vom Straßenbau und Brückensanierungen festmachte. Von 40 000 Brücken seien nur 15 Prozent in gutem Zustand, was einem horrenden Wertverfall gleichkomme. Als Gegenmaßnahme empfahl er eine massive Investition in den Verkehr und zwar in den Erhalt und dann erst in den Neubau.
Und im Hinblick auf den demografischen Wandel forderte er die Schlüsselressource Bildung in den Fokus zu rücken. Jedes Kind müsse bestmöglich gefördert werden. Wenn nur zwei Prozent unserer Bevölkerung den Ingenieursberuf ausübten, sei das ein eklatantes Missverhältnis im Vergleich beispielsweise zu den Ingenieuren Chinas. So heiße es „Tempo anziehen“: Tempo bei der Energiewende und damit beim Klimaschutz, beim Bürokratieabbau, beim fairen Verteilen der Ressourcen und bei der Reform des Bankensektors. Mit der Wirtschaft im Boot müsse das gelingen zu Zeiten, da selbst die NASA in ihrem neuesten Bericht vor einem Untergang der Zivilisation warnt. „Die Menschheit ist am Ende.“
Angesichts solch dramatischer Zukunftsszenarien kam er kurz auf den Parteitag der AfD zu sprechen und ihren Vorstellungen, dass man allein doch alles viel besser bewältige. Er erinnerte an den Wunsch des früheren amerikanischen Außenministers Henry Kissinger nach einer einzigen europäischen Telefonnummer und sprach sarkastisch von 28 „Bonsai“-Außenministern, die — alleine — niemand auf der Welt beeindrucken könnten.
In der Fragerunde ging es noch einmal um die junge Generation, die anscheinend schon resigniert hätte. Dabei sah er Lehrstellenangebote aus Deutschland etwa für Spanier oder Portugiesen auch kritisch. Wenn die Guten gehen („brain drain“), fehlten sie wiederum ihrem Land. Mit einem leidenschaftlichen Appell für ein gemeinsames europäisches Denken beschloss er seine Ausführungen. Europa als Geschenk, wo man mit– und nicht übereinander rede.
Cem Özdemir wirkte an diesem Abend ein bisschen verschnupft. Vielleicht hat sich die unausgesprochene Sorge vor einem neuen Wahl-​Desaster der Grünen bei der Europawahl schon ein bisschen in seinem Kopf breit gemacht.

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