Musik hinter Gittern: Blicke auf das Leben, diesseits und jenseits der Justizvollzugsanstalt Gotteszell

Kultur

Rems-Zeitung

Vom 1. bis 10. Oktober veranstaltet die Kultur Region Stuttgart in Zusammenarbeit mit „Musik der Jahrhunderte“ und „Netzwerk Süd“ das Festival „Zukunftsmusik“. Gmünd beteiligt sich am Sonntag, 3. Oktober, um 14 Uhr mit einer spannenden Musik– und Videoperformance in der Klosterkirche der Justizvollzugsanstalt Gotteszell.

Freitag, 01. Oktober 2010
Rems-Zeitung, Redaktion
143 Sekunden Lesedauer

PERFORMANCE (kub). Dort treffen zwei Systeme des Überwachens und Strafens aufeinander: Ein ehemaliges Kloster, in dem Dominikanerinnen einst freiwillig der Welt entsagten, ist heute das Frauengefängnis des Landes. Anstelle der religiösen Dispositive der Macht vollstreckt nun das System der Justiz den Ausschluss von der Gesellschaft.
Ein Künstlerteam, bestehend aus dem Komponisten Niklas Seidl, dem Theaterwissenschaftler Jan Rohwedder und dem Klangregisseur Sebastian Schottke, wirft einen Blick hinter die Gefängnismauern und reflektiert gemeinsam mit Häftlingen der JVA Gotteszell Arbeit und Gemeinschaft „hinter Gittern“. Daraus entsteht die Musik– und Videoperformance „Über den Zaun der Nachbarie“.
Musikalische Betätigung war — als Bestandteil der Gebete und Gottesdienste — in Gotteszell fest verankert. Und auch heute noch gibt es im Gefängnis immerhin eine — rein weibliche — Rockband. Wenn auch vielleicht auf den ersten Blick weniger musikalisch, ist ein Tag im Gefängnis doch nicht weniger strukturiert als ein Tag im Kloster. Auch hier gibt es Weckzeiten, Freigänge, Essenszeiten oder Zeiten für die Ausgabe von Medizin. Welche akustischen Signale diesen Tag gliedern, wie sich die Klangwelt des Gefängnisklosters im Laufe des Tages verändert, davon hat man als Zuschauer für gewöhnlich keine Vorstellung — oder lediglich eine, die aus dem Fernsehen stammt.
Wie der Alltag in abgeschlossen lebenden Gemeinschaften wie Klöstern und Gefängnissen für den Außenstehenden rätselhaft bleiben muss, entwickelt das Künstlerteam eine Art Spiel mit heimlichen Regeln. Welche Mechanismen im Innersten dieses Spiels wirksam sind, bleibt verborgen. Dafür eröffnen die performativen Abläufe jedoch einen Blick auf die Maschinerie, die das Leben im Gefängnis am Laufen hält, oder anders gesagt: die es umzäunt.
Dass die Künstler einen Blick „über den Zaun“ anstreben und nicht über die Gefängnismauer, zeigt an, dass es ihnen nicht darum geht, das Leben im Gefängnis auf eine Weise zu stigmatisieren: „Wir sind an den individuellen Lebensläufen der Insassen interessiert, die sich an einem solchen Ort bündeln, und sind uns gleichzeitig der zu gewährenden Diskretion bewusst, die eine Arbeit in diesem speziellen Umfeld erfordert“, geben die Künstler vor Beginn der Arbeit zu bedenken. „Auch liegt der gedankliche Fokus unserer Arbeit nicht auf einer Kritik an dem gesellschaftlich-​gesetzlichen Auftrag einer Justizvollzugsanstalt; wir glauben vielmehr, dass der von uns für diesen Ort entworfene künstlerische Prozess eine generelle Reflexion über ein gesellschaftliches Zusammenleben hervorrufen kann.“
Die Zusammenarbeit mit musikalischen Laien begreifen sie dabei als Herausforderung. „Musik von nicht-​professionellen Musikern kann eines der spannendsten Resultate ergeben, wenn die Loslösung von einem gängigen musikalischen Konzept gelingt. Die Entwicklung Neuer Musik im Sinne des Wortes ist eine der schwierigsten Aufgaben in der Musik; sie reizt uns aber umso mehr, da die Möglichkeiten der Entdeckung für den Ausführenden wie für den Hörer immens sind.“ In einem Gefängnis wie Gotteszell, dessen Innenhof eine Skulptur von Niki de Saint-​Phalle ziert, hat man so gute Chancen, durch ein künstlerisches Ereignis auf sich aufmerksam zu machen — und nicht durch einen wie immer gearteten Voyeurismus oder die Exotik einer Aufführung hinter Gittern. Dennoch verkehren sich hier gewissermaßen die Verhältnisse. Im Rahmen der Musik– und Videoperformance, die am Ende der Arbeitsphase steht, wird der Zuschauer zum „Einbrecher“ in eine üblicherweise verschlossene Welt.

Karten zu zehn Euro (ermäßigt sieben Euro) sind erhältlich beim i-​Punkt Schwäbisch Gmünd, Telefon (07171) 603‑4250. Konzertbesucher müssen ihren Personalausweis mitbringen. Informationen im Internet unter www​.zukun​ftsmusik​-das​-fes​ti​val​.de und www​.schwae​bisch​-gmuend​.de.