Das Landestheater Schwaben gastierte mit Friedrich Dürrenmatts Die Physiker im Stadtgarten

Kultur

Rems-Zeitung

Gerechtigkeit, Verantwortung und Moral sind die Grundfesten von Dürrenmatts Dramen — zeitlos und skurril, beklemmend aktuell und am Ende makaber. So darf sich jede Generation, jeder Schülerjahrgang seine Stücke selbst erschließen, sich überraschen lassen von Inhalt und Inszenierung.

Dienstag, 23. März 2010
Rems-Zeitung, Redaktion
131 Sekunden Lesedauer

THEATER (wil). Ein bisschen aufgemotzt, jedoch ziemlich werkgetreu, gastierte das Landestheater Schwaben am Freitag mit den Physikern im Stadtgarten.
Johann Wilhelm Möbius, nach Einschätzung der westlichen wie der östlichen Geheimdienste der größte lebende Physiker der Welt, hat sich in eine Irrenanstalt zurückgezogen, um seine Erkenntnisse vor der Welt zu verbergen, denn entweder „verschwindet“ er — oder die Welt. Klaus Teigel ist in der Rolle des genialen Wissenschaftlers eine Idealbesetzung, bescheiden im Auftreten, unscheinbar in der Gestalt überzeugt er durch seine Nichtdominanz. Auch Dürrenmatt hat seine Rolle so angelegt, dass er nur durch sein Gegenüber Bedeutung gewinnt. Er muss sich nicht als verstorbene Koryphäe ausgeben, er spiegelt sich im weisen König Salomo wider, der ihm als adäquater Gesprächspartner zugeordnet ist. Multiple Persönlichkeiten dagegen seine „Mitpatienten“: Beutler (Andre Stuchlik), der sich als Sir Isaac Newton ausgibt, in Wirklichkeit aber Alec Kilton, der amerikanische Begründer der Entsprechungslehre ist und Ernesti (Peter Höschler), der Einstein mimt, Joseph Eisler heißt, einen nach ihm benannten Effekt entdeckte und für den Osten arbeitet. Um ihre Tarnung aufrecht zu erhalten, hat jeder von ihnen eine Krankenschwester erdrosselt und Kriminalinspektor Voß (Dino Nolting) hat gelernt, die Mörder als Patienten, allenfalls als Täter, zu behandeln. Für ihn macht die Gerechtigkeit Ferien, er hat drei Fälle gelöst und niemand verhaftet, aus weltlich-​juristischer Sicht hat alles seine Ordnung. Dürrenmatts Chaos ist ideell, auf höherer Ebene — die Grundlagen müssen stimmig geklärt sein. Michael Seewald vom Memminger Landestheater hat seine Gags und Regieeinfälle deshalb auch auf die Nebenhandlung verlegt.
Fast grotesk wirkt der Aufmarsch von Möbius geschiedener Frau mit ihrem neuen Gatten, dem Missionar Rose und den drei Söhnen des Patienten. Sie wollen auf die Marianen übersiedeln, dort das Christentum verkünden. Die Buben wirken wie dressierte Affen, die im Chor sprechen und sich mit „Muss i denn“ von ihrem Vater verabschieden.
Doch Möbius’ Opfer ist umsonst, wie sich gegen Ende zeigt. Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd (Josephine Weyers, die man nicht mit Therese Giehse vergleichen darf) offenbart sich Patienten und Publikum. Sie entpuppt sich als das wahre Monster. Sie hat alle abgehört und durchschaut, sie hat die Krankenschwestern auf sie gehetzt und die Morde provoziert, um alle drei zu kompromittieren. Sie hat Möbius Aufzeichnungen kopiert und nutzt diese, sie hat einen Trust gegründet, der ihr die Weltherrschaft sichern soll, sie verrät alle. Ihr geht es um Macht, um Besitz, obwohl sie ohne Erben ist. Sie kennt keine Skrupel, weder gegenüber ihren Krankenschwestern noch gegenüber den Patienten. Schade, dass Seewald auf die männlichen Pfleger, die Dürrenmatt am Schluss auftreten lässt, zugunsten moderner vollautomatischer Schließtechnik verzichtet. Die nackte Kraft, welche die Idealisten vernichtet, wird so nicht sichtbar, die kalte Technik kommt nicht genügend zum Vorschein.
Schade auch, dass viele der Schüler im ausverkauften Stadtgarten über keine physikalischen Grundlagen verfügten. Viele glaubten, aus dem Saal schweben zu können, doch das Gesetz der Schwerkraft machte jeden Schritt deutlich hörbar. Aber davon abgesehen war der Theaterabend durchaus ein Erlebnis.