Der Kammerchor der Freien Waldorfschule Schwäbisch Gmünd führte im Münster die Messe h-​Moll von Johann Sebastian Bach auf

Kultur

Rems-Zeitung

Große Aufführungen stehen oderfallen mit deren Motor, der wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung stets das Ganze im Auge hat, weder den Überblick noch die Geduld (resp. Nerven) verliert und mit seiner Motivationsansteckung die Mitwirkenden verlockt, mitreißt, alles zu geben.Von Peter Skobowsky

Dienstag, 25. Januar 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
170 Sekunden Lesedauer

KONZERT. So geschehen am Samstagabend im Heilig-​Kreuz-​Münster. Vor vollem Hause zu musizieren ist selbstredend Motivationsverstärkung. Das Geheimnis kulminiert im spiritus rector des Ganzen: Walter Johannes Beck. Benedikt Walthers „Bekenntnis“ auf Seite 3 des Programmhefts trifft den Nagel auf den Kopf: Da ist die Rede vom „Schmelzen des Eises“, es ging ein „Schub durch den Chor“, als Beck durch seine vielfältigen Fähigkeiten selbst die letzten „Rebellen“ gewann.
Kein Wunder, wer erinnerte sich nicht an die vielen Wirkungsorte Becks zwischen Lorch und Wasseralfingen, wo sich Münsterpfarrer Kloker und Beck früher schon begegneten. Und wer könnte das Benefizkonzert am 5. Mai 2010 vergessen, in dem der Chor der Freien Waldorfschule aufhorchen ließ. So hat also die Stauferstadt einen weiteren (Kammer-)Chor, dessen Leistung besticht. Dass ein solches Projekt von vielen gestemmt werden muss, leuchtet ein. Deshalb galt der Dank den Organisatoren, Sponsoren und der Münstergemeinde.
Die Aufführung der h-​Moll-​Messe von Johann Sebastian Bach hatte mehrere „Brennpunkte“. Es wäre nicht die Persönlichkeit des umtriebigen Dirigenten, hätte er als bloßer Epigone neben vielen „Historisierern“ zum x-​ten Male sein Pensum abgeleistet. „Historisch informiert“ füllt er die Hypothese mit Leben: natürliche Artikulation und Deklamation unter dem Primat des großen Bogens sind seine Kriterien. Nicht so sehr die glanzvollen Nummern, bei denen so richtig in die Vollen gegangen werden darf (was natürlich dennoch zu Recht geschah!), sondern die sublimen: „Qui tollis peccata mundi“ oder „Et incarnatus est“ — überhaupt im „Credo“ erlebte man eine Chorhomogenität, unübertroffen geschmeidig, plastisch, mit Hingabe. Welcher (selbst professionelle) Chor hat nicht höchsten Respekt vor der akkordlichen und dynamischen Modulation des „et expecto“ (Adagio) und seiner Intonationsproblematik? Nichts davon bei Becks spannungsvollster Interpretation!
Die wunderbare Mischung junger, noch unverbrauchter Stimmen mit den erfahrenen der Schulkollegen und des collegium vocale betörte regelrecht. Das zahlenmäßige „Gefälle“ zwischen Frauen– und Männerstimmen war keineswegs ein akustisch-​qualitatives. Hellen, glänzend timbrierten Tenören und fundamentalen Bässen standen schmelzende Sopran– und Altstimmen zur Seite. Die unterschiedlichen Besetzungen von der vierstimmigen Chorpolyphonie bis zur Teilung des Soprans/​Alts oder bis zur Doppelchörigkeit im „Osanna“ gelangen gleichwertig vollkommen, die Spannung mühelos durchtragend, z. B. „et iterum venturus“ des Basses mit anschließenden Koloraturreihungen des ganzen Chores. Der Ertrag der intensiven Probearbeit zeigte sich auch im reihenweise Auswendigsingen vieler Choristen.
Lediglich Andreas Weller (Tenor) und der erst 23-​jährige Andreas Beinhauer (Bariton), Letzterer bereits vor einem halben Jahr solistisch bestechend, waren die einzigen Profi-​Solisten: Weller als gewohnt ruhender Pol mit feinem Ensemblegespür im Duett („Domine Deus“) oder im exponierten „Benedictus“ lyrisch glänzend, Beinhauer als Charakterbariton mit üppiger Schwärze seiner Tiefe — beide in blendendem Legato ihrer Partes!
Die sechs Solistinnen, allein oder zu zweit, Dorothee Beck, Teresa Steding, Andrea Cox (Sopran) und Gertraud Holzmann, Rhea Elbing, Susanne Lahres (Alt), waren bestens disponiert: in der Parallelität „wie ein Mann“ synchron ineinander. Nach so einem Einstudieren kein Wagnis, vom Dirigenten behutsam, aber klar geführt — auch das ist Ausweis der umfassend pädagogischen Kompetenz Walter Johannes Becks.
Ein weiterer Chor,
dessen Leistung besticht
Das „ensemble variable“ als Orchester dieser durchaus kammermusikalisch intendierten Aufführung hatte unterschiedliche Qualität. Die beiden Oboen deuteten wohl das „variable“ etwas zu eigenwillig: immer wieder treibend, trotz der federnd-​eindeutigen, sich nicht drausbringen lassenden Gestik des Dirigenten ohne nötige optische Kommunikation, klapperte es mehrfach gewaltig, sogar in der Gefahr des Auseinanderbrechens. Das galt — Gott sei Dank — nur gelegentlich für die Kontrabassistin.
Tonlich waren alle Gattungen von vorzüglicher Qualität: Flöten, Oboen (!), Fagotte, Streicher mit der sensiblen Konzertmeisterin Monika Böhm und ihrem meisterlichen Solo, die vorzüglichen Blechbläser und pointierten Pauken für die markanten Glanzpunkte. Die beiden zuständigen Gmünder Dekanatskirchenmusiker/​Bezirkskantoren Sung Nam Cho (Cembalo) und Ulrich Klemm (Orgelpositiv) ergänzten den souveränen Generalbass. Am Schluss dieser denkwürdigen Aufführung dieser wirklich „Hohen“ Messe in h-​Moll gab es einen gerührten Walter Johannes Beck. Ihm und den Mitmusizierenden wurde minutenlang stehend applaudiert und mit Blumen gedankt. Bach hätte sicher seine helle Freude gehabt, auch angesichts der zuweilen jämmerlichen Verhältnisse an St. Thomas zu Leipzig.