Helmuth Rilling im Schönblick: Der Maestro kann sich auf seine Musiker verlassen

Kultur

Rems-Zeitung

Helmuth Rilling und Bachs hohe Messe in h-​Moll – man kann sich kaum eine größere Einheit vorstellen. Kurz vor seinem 78. Geburtstag am 29. dieses Monats gastierte der große Interpret mit seiner Gächinger Kantorei und dem Bach-​Collegium Stuttgart auf dem „Schönblick“.Seit Jahren fühlen sich die Ausführenden laut Aussage von Hausvater Martin Scheuermann dort wohl wie zu Hause.

Sonntag, 22. Mai 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
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KONZERT (-ry). Kein Wunder, sind doch Geist, Gastfreundschaft und unverwechselbares Ambiente des Hauses verlockender Impuls genug. Und Hausvater Martin Scheuermann, der neben OB Richard Arnold alle Gäste herzlich begrüßte, wies zu Recht auf den gottesdienstlichen Charakter des Konzerts hin, der Bach geschuldet ist und durchgängiges Credo des gläubigen Christen Helmuth Rilling ist. Davon zeugt die Spannung vom „Kyrie“-Ruf des Beginns bis zur Friedensbitte am Schluss. Für Rilling ist es kein Makel, Musik in ihrer dienenden Funktion am Wort als Kriterium der Interpretation zu verstehen.
Vier Familienmitglieder wirkten da zusammen: Helmuth als Dirigent, Ehefrau Martina im 2. Sopran, Konzertmeisterin Rahel und Sara als Bratscherin – auch das ist ein bemerkenswertes Zeichen des Einklangs. Rilling muss ein Eidetiker sein: wie gewohnt, dirigiert er alles auswendig, gestisch sparsam, mittels hellwacher Mimik motivierend, um dann pointiert zu fordern. Das Ganze scheint folgerichtig unaufgeregt „zu laufen“ – der Maestro kann sich einfach auf seine Leute verlassen, mit denen er minutiös gearbeitet hat. Die innere Dramatik lässt das Hören als Musizieren „aus einem Guss“ erleben.
Das von Daniel Börnert ausgezeichnet redigierte Programmheft verweist auf die Polarität des „opus summum et ultimum“: nicht kompositionsgeschichtlich, jedoch bezüglich der inneren Einheit und des Charakters einer „musikalischen Predigt“ sehr wohl aus einem Guss, zumal Bach als Anhänger lutherischer Orthodoxie kein theologisches Problem mit den Hauptteilen (Ordinarium) der (katholischen) Messe hatte. Auch die ständigen Anleihen bei früheren Kompositionen (Parodie– oder Kontrafakturtechnik) beeinträchtigen den einheitlichen Eindruck keineswegs. Bachs musikalisches und religiöses Vermächtnis impliziert ökumenische Konsequenz gottesdienstlichen Feierns, dessen Mittelpunkt die ausschließliche Verherrlichung Gottes ist.
Ohne diesen zwingenden Zusammenhang wäre eine Interpretation Rillings nicht denkbar. Deshalb zieht er die Hörer einfach in seinen Bann, überträgt seine geistige und geistliche Frische direkt auf sie. Deshalb hat er fachlich auch keine Veranlassung, bloßer Epigone der Historisierer zu sein: er gestaltet im Einklang gewordener Hörgewohnheit mit modernem Instrumentarium. In guter Tradition bewahrt er nicht die Asche, sondern trägt die Glut weiter, indem er eben auch den Glanz moderner Trompeten zur Aufgipfelung der Höhepunkte bewusst nutzt. Sein Musizieren bleibt immer authentisch, in Jahrzehnten naturgemäß weiterentwickelt. Der Preisträger des Festivals Europäische Kirchenmusik Schwäbisch Gmünd 2008 ist seinem Grundanliegen stets treu geblieben. Das schätzen seine Hörer an ihm! Die Stringenz des „Szenischen“ hebt mit einem betonten „Kyrie“ des (zumeist) fünfstimmigen Chores an. Im Wechsel mit den Solisten steigert sich die Aussage konsequent: ein prächtiges Jubilieren im „Gloria“, dem eine zart-​demütige Friedensvision oder das verinnerlichte Bedenken der Sündentilgung folgen, am Schluss das fulminante „Cum Sancto Spiritu“.
Unter die Haut gehen die Kontraste im „Credo“: „Et incarnatus“ — „Crucifixus“/“et sepultus est“ -, um dann in den Osterjubel einzumünden. Was der Chor im „Confiteor“, also bekenntnishaft, betont oder im Übergang zum zweiten Auferstehungsjubel an Intonationsbravour leistet (fast a cappella, nur vom Continuo gestützt), ist nur mit Superlativen zu preisen. Das Sanctus fließt zu den Oktavsprüngen der Bässe majestätisch und das doppelchörige „Osanna“ wird ohne Umgruppierung der üblichen Chorpostierung mühelos bewältigt.
So kann man Chor und Orchester eine Glanzleistung bescheinigen. Das gilt auch für die wunderschönen Soli (Violine, Flöte, Oboen, Trompete/​Horn) und der mitatmenden Begleitung, die auf jede Agogikanforderung homogen reagiert (und wenn der zweite Cellist – sich fast verrenkend – dem Kontrabassisten umblättert, weil jener dies zwischen zwei pausenlos aufeinander folgenden Nummern nicht kann, dann ist das symbolträchtig und solidarisch zugleich).
Das Solistenquartett tut ein Übriges zum Gelingen der musikalischen Einheit:
Das werdende Kind der werdenden Mutter Julia Sophie Wagner (Sopran) wird sicher ebenso helle Freude empfunden haben wie das entzückte Publikum: wunderbar lyrisch, jugendlich-​fraulich anmutig, ob allein oder gekonnt ensemblefähig (im Duett mit Alt oder Tenor), mit blendender Strahlkraft (a2 auf „Je-​sus“) – ihren Namen wird man sich merken müssen!
Die fünfzigjährige Ingeborg Danz ist eine Institution! Seit Jahren ist die hochintelligente Altistin „im Geschäft“, gestaltet mit einem bewundernswerten Einfühlungsvermögen, stimmtechnisch und stilistisch souverän in allen Lagen (den meisten Countern haushoch überlegen). Allein im „Agnus Dei“ ist man elektrisiert ob der Zurückname der Dynamik bis an die Grenze des Nichts, um dann wieder eine exponierte Steigerung mitzuerleben — summa cum laude.
Der englische Tenor Thomas Hobbs steht da in nichts nach. Mühelose Höhe ohne jedes Forcieren, im Duett gleichermaßen sensibel. Er zelebriert legato das überaus tückische „Benedictus“ in makelloser Qualität und Ruhe.
Der noch nicht einmal 33-​jährige Bassbariton Konstantin Wolff glänzt mit einer regelrechten Sturm-​und-​Drang-​Stimme: charakteristisches Timbre von großem Intervallumfang, mühelose Beweglichkeit. Die staccatierten Koloraturen entbehren protzend der notwendigen Linie. Auch die Silbentrennung („ad-​oratur“) ist korrekturbedürftig, Völlig überzeugt er, wenn er legato gestaltet.
Erst nach Minuten besinnlichen Nachklingens in Stille, von Rilling wunderbar vorgegeben, brandet begeisterter Beifall auf: Dank für Werk und Interpretation – ein beglückender Abend für die vielen Gäste auf dem „Schönblick“.