Festival Europäische Kirchenmusik: Weltklassekünstler Joshua Rifkin & The Bach Ensemble entzücken die Zuschauer

Kultur

Rems-Zeitung

Mit Prof. Dr. h. c. Joshua Rifkin hatte die EKM einen der profiliertesten Forscher und Interpreten Bachscher Musikeingeladen.

Samstag, 06. August 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
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KONZERT (-ry). Mag man angesichts der Leipziger Thomaner-​Tradition seine These bezweifeln, dass jede (Vokal-)Stimme nur einfach besetzt worden sei (weil eben nur eine autograph geschriebene vorhanden ist), so gehört Rifkin zu den Pionieren der Bach-​Forschung. Der US-​Amerikaner betonte denn auch im Künstlergespräch mit Dagmar Munck-​Sandner (SWR 2) den Vorrang des Hörens vor der Musikwissenschaft.
Ebenso zweitrangig sei, ob ein Werk Bach nur zugeschrieben werde oder von ihm sei; die Schönheit des Werkes sei ihr Maßstab. Das alles sind wohltuende Bekenntnisse angesichts der häufig anzutreffenden pseudodogmatischen Verbissenheit mancher Epigonen. Rifkin: „Bach ist immer Bach, … hat immer Überraschungen, Unerwartetes“ bereit. Und: nicht gerade bescheiden, habe Bach immer höchste Honorare gefordert.
Viele Details zu (gesicherten) Hypothesen, etwa des Bogenstrichs in Parallelität zum Sänger; die Gretchenfrage, „wer ist dieser Bach, … wie seine Musik“, bestimmten das Gespräch. Entscheidend sei die Wirkung von Bachs (so ganz anders interpretierter) Musik.
Damit war der Rahmen gesteckt für ein Konzert mit Buxtehudes Kantate „O Gottes Stadt“ BuxWV 87 und den Bach-​Kantaten „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ („actus tragicus“) BWV 106, „Weinen, Klagen“ BWV 12 und „Komm, du süße Todesstunde“ BWV 161 – alles Frühwerke aus Bachs Zeit in Mühlhausen und Weimar, um dasselbe Thema zentriert: Tod und Auferstehungshoffnung. Der Barock kannte keine Berührungsängste zu den menschlichen Existenzialen.
Klaus Stemmler hat in der bei ihm gewohnten schlüssigen Kommentarweise zu Recht auf das Verhältnis von Wort und dessen predigthaft musikalischer Auslegung hingewiesen. Buxtehude und J. S. Bach waren so deren genialste „Prediger“ in guter lutherischer Tradition. Wer assoziiert nicht Bach als den „fünften Evangelisten“!
Vor Beginn des Konzertes wich Stemmler von der Gewohnheit ab, eigens Personen zu begrüßen. Sein Dank, verbunden mit der Bitte um entsprechenden Applaus, galt der verdienstvollen Zusammenarbeit mit der SWR-​2-​Redakteurin Dagmar Munck-​Sandner, dem Rezensenten dieser Zeitung und Ludwig Hartmann von den „Tagen Alter Musik“ aus Regensburg, der dem EKM-​Festival einen Gegenbesuch abstattete.
Rifkin hatte zu genauem Hinhören auf entsprechende Textstellen motiviert. Seine kammermusikalische Aufführungspraxis ist von subtiler Durchsichtigkeit, welche das Strukturgewebe nie verschleiert, verwischt. Dennoch steht eine gewisse mangelnde dynamische Differenzierung des Instrumentalparts dem Gesang entgegen, deckt ihn zu.
Rifkin lässt den Vokalsolisten jede Freiheit, die zu interessanten Beobachtungen führt: Die Männerstimmen lassen den Linien einen natürlichen Verlauf mit selbstverständlicher Stimmwärme, die Sopranistin ist da zuweilen etwas zurückhaltender, die Altistin hingegen favorisiert die (sattsam gewohnte, zu Unrecht der historischen Aufführungspraxis untergeschobene) Überdeklamation, mit der Folge lang geblähter starrer Töne, denen nur selten die Wärme des Vibratos zugebilligt wird. Die körperlich sichtbare „Arbeit“ kann kein tolerierbares Pendant des Gehörten sein.
Rifkins „The Bach Ensemble“, eine Spezialisten-​Formation mit viel Erfahrung und Gespür für die Details musizierte überaus engagiert, die stehenden Streicher wie ein „angewurzeltes Ballett“, so richtig etwas fürs Auge! Der spe – zielle Klang von Blockflöten, der Oboe, des Dulzians (Vorgänger des Barockfagotts), der Gamben und des Violone gesellte sich die gewohnten Barockviolinen und –violen.
Das alles war sehr reizvoll, fand nur seine Grenze in der Trompete: Ansatzprobleme und Unsauberkeit des nicht durch Grifflöcher, Klappen oder Ventile veränderten Originals bewirken ein Unbehagen, das nicht der Spieler zu verantworten hat. Dann lieber ein Zink oder die Weiterentwicklung zur „modernen“ Hochtrompete, zumal schon Bachs Startrompeter Gottfried Reiche an den Folgen von Strapazen des Geforderten starb. Ist der Streit um die Authentizität nicht (grotesk) akademisch, zumal der Barock und seine Trompete eine Fülle von Instrumentenvarianten kennt?
Rifkin leitete die Aufführung vom eigenen Orgelpositiv aus (ständig mit 8’). Das synchrone Ineinander gelang erwartungsgemäß perfekt. Das Vokalquartett in der unterschiedlich beschriebenen Zugehensweise hatte Soli, Chöre und Choräle (mit gehaltenen Fermaten – ein lobenswertes Beispiel undogmatischer Aneignung durch den sympathischen Leiter) zu sin – gen: In Schwäbisch Gmünd (auch in dieser Festivalsaison mehrfach) zum wiederholten Male die blinde Sopranistin Gerlinde Sämann: mit müheloser, klar zeichnender Höhe, dennoch in einer für eine Atemtherapeutin unverständlichen Hochatmung, die auch musikalisch „kurzatmig“ geriet.
Die Altistin Margot Oitzinger überzeugte – wie erwähnt – trotz aller „Vorschusslorbeeren und Auszeichnungen und ob grundsätzlich vernachlässigtem Legato am wenigsten. Erst im zweiten Konzertteil zeigte ihr Singen zunehmend jene Gelöstheit und Wärme, die man sich durchgängig gewünscht hätte.
Christian Hilz gefiel mit seinem flexiblen Bariton vor allem durch seine homogenen Linien, selten forcierte er (knödlig in der Tiefe). Er bildete das solide Fundament chorischer Vierstimmigkeit.
Absolut vorbildlich sang Prof. Gerd Türk einen wunderschönen Tenor: traumhaft sein lyrisches Timbre, sein makelloses Legato (auch in Koloraturen!), seine durchgeistigte Gestaltung des Textes und eine angemessene dynamische Expansion, ein Wunder an stimmtechnischer Könnerschaft, gepaart mit dem untrüglichen Sinn für klangliche Realisation. Die subjektive Wahrnehmung wird die qualitative Wertschätzung innerhalb der Barockkonzerte dieser EKM präferieren.