Zum ersten warmen Essen seit langem gab’s ein Foto der Gmünderin Margit Hägele

Schwäbisch Gmünd

Rems-Zeitung

Die Gmünder Fotografin Margit Hägele erzählt von hungernden Menschen in einer der reichsten Städte der Vereinigten Staaten von Amerika, in Dallas, Texas. Dort machte sie armen Menschen ein ungewöhnliches Geschenk.

Dienstag, 11. Januar 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
305 Sekunden Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND (bt). Margit Hägele will mit ihren Photoprojekten und Geschichten Aufmerksamkeit für soziale Missstände wecken — etwa mit ihrer Story über New Orleans, kurz nachdem der Hurrikan Kathrina den Küstenstreifen im Süden der USA verwüstet hatte, oder mit ihrem Projekt „Photography for Peace“. Der Rems-​Zeitung erzählte sie von ihrem jüngsten Projekt.
In Dallas, im Bundesstaat Texas, werden jedes Jahr bis zu 30 000 Menschen, viele von ihnen obdachlos, in einer „Vorweihnachtlichen Speisung“ mit Lebensmitteln versorgt. „So hautnah habe ich Hunger selten in die Augen geschaut“, sagt die Frau, die in vielen Teilen der Welt unterwegs war, unter anderem in Ländern der so genannten Dritten Welt.
Eine Freundin, die ehrenamtlich bei kirchlichen Aktion mithilft, hat sie um ihre Mithilfe gebeten. Schon seit vielen Jahren finden ab Oktober in Dallas Speisungen für bedürftige Menschen statt. Mäggi Hägele und ihre Freundinnen fuhren zur Kirche — in einen Stadtteil von Dallas, nicht weit von den bekannten, stadtbildprägenden villenähnlichen Anwesen, in eine Gegend, „in die ich mich nicht mal bei helllichtem Tag und in Begleitung getraut hätte“. Noch bevor sie ihr Ziel erreicht hatten, fuhren sie langsam „an einer bestimmt 500 Meter langen Menschenschlange vorbei, bei deren Anblick ich das uns zu erwartende Leid förmlich spüren konnte“.
Die Gmünderin, die schon vor Jahren erkannt hat, dass sie überall daheim sein kann, hatte im Vorfeld gefragt, ob es angebracht sei, die Kamera mitzubringen — immerhin hatte sie vor, über diese Aktion zu berichten. Die Zustimmung zu erhalten, war kein Problem, „doch hatte ich dann beim Anblick so vieler hungernden Menschen Skrupel“.
Die Freundinnen fanden einen Parkplatz um die Ecke, und steuerten das Kirchenportal an. Spielende Kinder, die mit Stöcken im Dreck zeichneten, alte Menschen gestützt auf Freunde, oder auch Menschen mit spärlicher Bekleidung in Rollstühlen warteten vor der Kirche. Alle in der Hoffnung, eine warme Mahlzeit zu ergattern, vielleicht einen warmen Mantel und ein klein bisschen menschliche Wärme — „und doch sah ich in vielen Gesichtern, die ich noch etwas scheu betrachtete, dieses Lächeln, das sich mit gar nichts vergleichen lässt“. Die Mädels betraten die Kirche und wurden vom Pastor und der Organisatorin empfangen, die sich bedankten und erzählten, dass sie eine Woche später eine noch größere Aktion planten, zu der bis zu 30 000 bedürftige Menschen erwartet würden.
Kaum jemand hat die Möglichkeit, Essen aufzuwärmen
Die Freiwilligen wurden also eingeteilt, manche zur Essensausgabe, manche zur Kleiderverteilung. Margit Hägele landete bei der Essenverteilung. Als dann ein Lastwagen angefahren kam, half sie unzählige Kartons, heiße Großküchentöpfe und anderes mehr auszuladen. Ein Spieler der Dallas Cowboys hatte tausend Truthähne gespendet, die von einer Schulklasse in der Schulküche — rund 15 Kilometer entfernt — zubereitet worden waren. Das kam ihr umständlich vor; sie wunderte sich auch darüber, dass das Essen warm ausgegeben wurde. Bis ihr der Pastor erklärte, „dass über 80 Prozent der heute hier versammelten Menschen keine Möglichkeit haben, ihr Essen zu kochen oder aufzuwärmen“. Entweder können sie nicht mal mehr ihre Stromrechnung bezahlen, oder sie haben einfach kein Zuhause, sind also obdachlos.
In den vergangenen Jahren wurden noch Pakete mit kalten Lebensmittel verteilt, die dann zu Hause gekocht werden konnten. Doch die Bedürftigkeit der Menschen, ihre Armut hat sich um ein Vielfaches verschlimmert. Schockiert löffelte Hägele den Kartoffelbrei in isolierte Styroporbecher; „so hautnah habe ich Hunger selten in die Augen geschaut“.
Während sie die ihr zugeteilten Aufgaben erledigte, wurde ihr beim Anblick von so viel Elend ganz seltsam zumute. Die Menschen drängten sich in den engen Kirchenraum und erhielten ihr Essen in einer Plastiktüte — für viele nach langer Zeit die erste warme Mahlzeit. Die meisten bedankten sich lächelnd, andere schauten beschämt weg. Nach mehreren Stunden machte sie eine kleine Pause und ging hinaus. Dort sah sie, dass sich die Schlange nicht wirklich verkleinert hatte. Sie fasste sich ein Herz und ging auf eine Familie zu, die dort wartete. Ihre Frage ob sie ein Foto machen dürfe, wurde mit einem Schulterzucken beantwortet. Die Mutter meinte, sie sei doch dreckig und arm, warum ich sie denn fotografieren wolle. Hägele entgegnete, dass sie schön sei, ein so schönes Lächeln habe. Die Frau nickte gleichgültig, und so entstand ein Foto von ihr und der Familie. Die Fotografin dreht die Kamera um und zeigte das Ergebnis vor: „Ein Strahlen erhellte ihr Gesicht. Sie fing an zu weinen und erklärte mir, dass sie sich nicht erinnern könne, wann sie das letzte mal ein Foto von sich oder Ihrer Familie hatte. Sie fragte mich, ob oder wie sie das Foto denn irgendwie bekommen könnte.“
In diesem Moment hatte Margit Hägele die Idee: „Wenn ich schon nicht mit viel Geld aushelfen kann, dann kann ich doch wenigstens mein Talent und meine Zeit zur Verfügung stellen. Einfach auf dem nächsten Event dabei sein, dort Fotos von den Menschen machen, das Foto vor Ort gleich ausdrucken, um diesen Menschen, die sich nicht mal ihr Essen aufwärmen können, geschweige das Geld für ein Familienfoto haben, eine Freude zu machen.“ Sie entschuldigte sich, sagte, sie werde gleich zurück sein und machte sich auf die Suche nach dem Pastor. Als sie ihm sagte, was sie vorhatte, umarmte er sie und war schlicht begeistert. Der wartenden Familie sagte sie, sie solle nächste Woche zur Veranstaltung ‘Christmas in the Park’ kommen, dort könnten sie ihr Foto abholen.
Christmas in the Park ist die größte Armenspeisung in den USA; Firmen und zahlreiche Privatleute stiften dafür Kleider, Spielzeug, Lebensmittel, Malstifte und anderes mehr. Ein Heer von freiwilligen Helfern wird benötigt, um diese Aktion durchführen zu können. So kam es, dass Margit Hägele in der darauffolgenden Woche mit Kamera, Computer und Drucker bepackt und mit vier Freundinnen im Schlepptau an der Riesenhalle in Dallas ankam. Diese Halle ist normalerweise eine „Messehalle“, groß wie zwei Fußballfelder. In einem angrenzenden Raum hatten einige Helfer die ganze Nacht über gearbeitet, um den Menschen, die seit dem Abend warteten, einen warmen Raum zur Verfügung stellen zu können, in dem zudem für die Kinder auf einer Großleinwand Märchenfilme gezeigt wurden. Hägele wurde ein Platz zugewiesen, der sich glücklicherweise neben dem „Thron des Nikolaus“ befand, und die Frauen begannen schnell, ihren Tisch aufzubauen. Als dann um 10 Uhr die Türen der Halle geöffnet wurden, gab es kein Halten mehr. Im wenigen Minuten hatte sich vor der Weihnachtskulisse eine Warteschlange gebildet.
Als die Menschen am Fotostand ankamen, hatten sie schon einige andere Stände passiert. Viele Kinder hatten ein Spielzeug in der Hand, das sie mit eigentümlich erstauntem, glücklichen Lächeln in die Kamera hielten, oder sie präsentierten stolz ihre neue Winterjacke. Kinder mit großen Augen beobachteten auch, wie Einzelpersonen und Familien gleichermaßen um und auf dem Nikolaus-​Schoß drapiert und fotografiert wurden. Hägele: „Nicht nur einmal dachte ich, dass die Plastikpuppe für einen Euro wohl das einzige Geschenk für dieses Kind sein würde.“ Sie fotografierte nonstop acht Stunden und erlebte „ein Gefühlskarussell nach dem anderen“. Sie machte drei, vier Fotos, zog die Karte aus der Kamera, gab sie weiter, eine Freundin schob die Bilder auf den PC, die nächste betätigte den Drucker, eine weitere schnitt das Foto zu, steckte es in einen Umschlag, und übergab die Bilder an die Wartenden. So verging die Zeit wie im Flug; ich durfte in hunderte von dankbaren Gesichtern schauen, die weinten, lachten, glücklich waren, einmal ein Familienfoto oder Einzelfoto von sich zu haben.