Der Neujahrsempfang der Frauen zeigte schlaglichtartig, was Frauen wollen und kritisieren

Schwäbisch Gmünd

Rems-Zeitung

Der Frauenempfang war von Gmünderinnen bestimmt und von dem, was sie der Bundeskanzlerin zu sagen haben. Ihre „Briefe an Angie“, ziemlich nichtssagend von Staatsminister Eckart von Klaeden beantwortet, zeigen, was Frauen unter den Nägeln brennt.

Montag, 17. Januar 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
215 Sekunden Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND (bt). Die Jüngste war 15, die Älteste 78 Jahre alt, eine Unternehmerin war dabei, eine Lehrerin, eine Politikerin, eine Rentnerin, eine Künstlerin eine Installateurin. Die eine hatte Gmünder Wurzeln, die andere einen „Migrationshintergrund. Nach der Alleinerziehenden sprach die Schülerin, und alle hatten sie ihren Brief an „Angie“ mitgebracht — diese Bestandsaufnahme der etwas anderen Art gefiel gut, ebenso die Möglichkeit, anschießend zu lachen, zu plaudern und neue Projekt zu planen.
Die Gmünder Frauenbeauftragte Elke Heer bedankte sich unter anderem bei Annabella Akcal, die die Schreibwerkstatt geleitet hat, bei „Mixtown“ und bei Karin Stroh und Cornelia Österle, denen das feministische Gebäck zu verdanken war. Außerdem machte sie Lust aufs Frauenjahr 2011, etwa auf eine Soiree zum Thema Prostitution im Rathaus: „Liebe ist unbezahlbar — nicht käuflich“.
Bürgermeister Julius Mihm nannte diesen „Frauen-​Feiertag“ eine gute Gmünder Tradition. Er sprach von „skandalösen Ungleichheiten“, warnte vor einer „Wiedervermännlichung“ der Welt und ging auf die Bedeutung der Frauen für die Stadtentwicklung ein. Gmünderinnen sollten es zu ihrem persönlichen Anliegen machen, Schönheit, Anmut und Freundlichkeit in die Stadt zu bringen.
Dorothea Müllers „Brief an Angie“ war bestimmt von Werbebotschaften und dem Dilemma einer 25-​jährigen Studentin, die erfahren muss, dass es allein an ihr ist, erfolgreiche, selbstbewusste Powerfrau mit zwei Kindern und den Maßen 90 – 60-​90 zu sein. In dieser Ikea-​Welt, so hat sie erkannt, kriegt nämlich jede, was sie will, wenn sie es nur wirklich will: Entdecke die Möglichkeiten — oder gesteh dir ein, dass du versagt hast, „nicht genug Ehrgeiz bim Wollen gezeigt“.
Christine Blath schrieb der „lieben Frau Bundeskanzlerin“, dass Frieden erarbeitet sein will. Dass Völker miteinander sprechen müssen. 1946 kam ihre Familie nach zweimaliger Flucht vor der deutsch-​russischen Grenze nach Sachsen, wo sie als Flüchtlinge „gemobbt und ausgegrenzt“ wurde, wo sie Hunger litt: „Die Sprache war fremd und an Freunde war nicht zu denken. Das ist so wie heute auch mit den Fremden, die hier her kommen. Es wiederholt sich.“
Kinderkriegen als Hindernis
und Armutsrisiko?
Claudia Österle schilderte ihren Arbeitstag — fünf Stunden Schlaf, danach Baustellentermine und Kinderkrippe, Kundentelefonate und Murmelspiel unterm Schreibtisch. Vollzeitjob und Muttersein lasse sich kaum vereinbaren. Als Leistungsträger müssten auch die genannt werden, die in Elternverantwortung lebten. Mehr noch: Die tatsächlichen Leistungsträger der Nation seien nicht die Topmanager, sondern „die Millionen Mütter, die unsere Kinder erziehen“. Die sehr geehrte Frau Dr. Angela Merkel möge bitte alles dafür tun, dass Kinderkriegen nicht zum Hindernis oder gar zum Armutsrisiko werde — und dazu gehörten nicht nur Kindergeld bzw. Kinderfreibetrag, sondern eben auch freie Krippenplätze.
Schülerin Aylin Alkoyak schrieb der „lieben Angie“ von Vermüllung und der Problematik der Atomwirtschaft, davon dass Menschen Verantwortung übernehmen müssen für ihr Handeln. Und überhaupt: Ob es, Stichwort Stuttgart 21, nicht möglich sei, zuerst die Menschen nach ihrer Meinung zu fragen, bevor große Pläne umgesetzt würden? Und außerdem — müsse Deutschland wirklich der drittgrößte Waffenhersteller sein?
Silvia Bopp schrieb der Bundeskanzlerin als hätten sie „zusammen im Kreise gestanden um gemeinsam zu tanzen“. Die „Tanzschwester“ möge doch nicht im Schulden– und im Giftmüllberg rühren, sondern das Leben feiern und „bedingungslose Liebe des Herzens fühlen“.
Emine Beyer schrieb von den sozialen Missständen, mit denen sie in ihre Arbeit als Rechtsanwältin konfrontiert sei — es sei nahezu unmöglich geworden, als Alleinverdiener eine kinderreiche Familie durchzubringen. Es sei ein Armutszeugnis, dass Bildung und gute Berufsausbildung immer mehr von der Höhe des Einkommens der Eltern abhänge. Reitstunden, Klavierunterricht, sogar ein Wilhelmabesuch für die ganze Familie sei Sozialhilfeempfängern nicht möglich. Sie sprach sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen aus, mit dem den Menschen ihre Menschenwürde zurückgegeben werde.
Lotte Rodi gab sich kämpferisch. Geringverdienern und Hartz IV-​Empfängerinnen werde der Heizkostenzuschuss gestrichen, die hohen Einkommen aber nicht stärker zur Kasse gebeten. Immer mehr höre „Angie“ auf die die großen Konzerne und Lobbyisten, und die oberen Zehntausend, die auf Kosten der anderen und der Umwelt Reichtümer anhäuften, könnten sich gar nicht mehr vorstellen, „wie Lieschen Müller ihr Leben in deprimierenden und krank machenden Jobs verbringen muss“. Auch sie schrieb vom bedingungslosen Grundeinkommen als einem Modell, mit dem Frauen und Männer und Kinder in Würde leben könnten. Zudem findet sie es unerträglich, dass Not leidende Menschen nicht einreisen dürfen bzw. abgeschoben werden, „auch in Folterländer wie Libyen, nur weil wir unseren auf ihre Kosten erworbenen Wohlstand nicht teilen wollen“. Und das mit den Waffenexporten, schreibt die Friedensfrau, geht gar nicht: „Ich möchte in einem Land leben, das wie Costa Rica keine Waffen produziert und exportiert, das Militär abschafft und die frei werdenden Mittel in Bildung und Gesundheit investiert.“ Für ihre Kinder und Enkel, letztlich für alle Menschen wünsche sie sich, dass „Angie“ ihre Macht zum Wohl der gesamten Bevölkerung nutze.
Susanne Bundschuh erklärte: „Wenn unsere Gesellschaft sich verändern soll, und davon bin ich überzeugt, dass dies passieren muss, damit unsere Demokratie und ein soziales Mit– und Füreinander weiter bestehen können, wird dies nicht von oben oder durch Sie geschehen.“ Sie schrieb von ihrem „großen Unbehagen, dass etwas zutiefst Strukturelles an unserem System nicht stimmt“. Aber die Veränderungen kämen „von unten und aus unserer Mitte“, und sie werde dabei sein.