Blick auf all diejenigen, die zwischen den Jahren Hilfe benötigten – und erfahren haben

Schwäbisch Gmünd

Rems-Zeitung

So viel Vorfreude, so viele Vorbereitungen sind mit Weihnachten und dem Jahreswechsel verbunden, dass die Feierstunden allzu oft hinter den Erwartungen zurückbleiben. Für einige Menschen ist diese Zeit der schiere Horror.

Mittwoch, 05. Januar 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
257 Sekunden Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND (bt). Silvester ist weniger ein Problem, aber Weihnachten, sagt Andreas Frey von der zentralen Beratungsstelle für Wohnungslose in St. Elisabeth, ist immer schwierig. Weihnachten ist ein Familienfest, und wer kein Daheim hat, hat in der Regel auch keine Familie. Ein St.-Elisabeth-Bewohner hat, so Frey, „von vorneherein gesagt, dass er nicht gestört werden will“. Der Mann blieb die ganze Zeit in seinem Zimmer, nahm auch nicht an den Mahlzeiten teil und ließ sich erst nach den Feiertagen wieder blicken. In solchen Fällen ist es gut, wenn man die Leute kennt, wenn man einschätzen kann, wie schlecht sich jemand fühlt — um dann solche Wünsch respektieren zu können. Was, wie der Volksmund sagt, in den besten Familien vorkommt, heftige Zerwürfnisse unterm Christbaum, gibt’s in St. Elisabeth nicht. „Keine Streitereien, eher Traurigkeit“, sagt Frey, die Tendenz sich zu zurückzuziehen. Auf der anderen Seite ist die Wärmestube selten so gut besucht wie an Weihnachten — viele brauchen die Gesellschaft und das Gefühl, nicht ganz allein zu sein. In den vergangenen zehn Jahren gab’s einige Schicksale, die Frey persönlich sehr nahe gegangen sind, etwa wenn alleinstehende Frauen an diesem Tag nicht ertragen können, dass sie ihre Kinder verloren haben — sprich dass diese Kinder vom Jugendamt in Pflegefamilien untergebracht wurden.
Niko Danzinger von der Kontakt– und Anlaufstelle „Limit“ im Milchgässle berichtet Ähnliches. An diesen Tagen seien bei den Klienten meist Gedanken an frühere, an bessere Zeiten bestimmend. Vielen wird bewusst, wie allein sie im Grunde sind und was ihnen mit den Jahren verloren gegangen ist. Die Zukunft wird meist sehr pessimistisch angegangen. Danzinger: „Und dann wird Silvester natürlich ganz anders erlebt.“ Das Team der Sozialberatung erlebe es oft, dass die Betroffenen solche Tage im Bett verbringen, dass sie sich „abschießen“, sprich die Lebens– und Verlustängste mit Alkohol und anderen Suchtmitteln betäuben. Traurige Veranstaltungen also auch hier.
Immer stärker werden die Ordensfrauen wichtige Hilfsinstanz
Im Limit versucht man deshalb grundsätzlich, „Beziehungen anzubieten“, „Hilfesuchenden die Hand zu reichen und ihnen klar zu machen, dass sie willkommen sind, unabhängig von Veränderungswunsch und Veränderungsfähigkeit“. Weihnachten wurde dieses Jahr in kleinem Rahmen gemeinsam gefeiert; über die Feiertage war immer jemand telefonisch erreichbar, und auch die ambulante Therapie wurde durchgehend angeboten: „Wir wissen, dass es Gesprächsbedarf gibt.“ Nicht nur Dorothea Ensel war für die Abhängigen da, immer mehr zeigt es sich auch, dass die Klostergemeinschaft der Franziskanerinnen — insbesondere Schwester Joyce -, die ohnehin wertvolle Hilfe leistet, an solchen Tagen, wenn Fragen nach dem Lebenssinn auftauchen, in besonderem Maß gebraucht wird.
Im Gmünder Frauenhaus hätte an Weihnachten eine weitere Hilfesuchende aufgenommen werden können, an Silvester war man mit fünf Frauen und ihren acht Kindern voll ausgelastet. Jede weitere Frau hätte an einen Nachbarkreis vermittelt werden müssen. In den vergangenen 19 Jahren hat Claudia Seiler im Frauenhaus dieselbe Erfahrung gemacht wie während ihrer Arbeit im Gefängnis: „Silvester ist schwieriger als Weihnachten.“ Das hat auch damit zu tun, dass Frauen aus anderen Nationen und Ländern zum Teil andere hohe Festtage haben, während Silvester fast weltumspannend gefeiert wird. Weiterer Punkt ist, dass der Jahreswechsel mit Rückblick und Ausblick zu tun hat. In diesem Fall mit Erinnerung an Terror und der Angst vor der Zukunft. Vielfach werden diese Abende im Frauenhaus verschlafen. Wenn gefeiert werde, zeige sich, so Seiler, dass geteiltes Leid eben doch halbes Leid sei.
Die Telefonseelsorge in Ulm hat das Problem, dass das ganze Jahr über sehr viele Hilfesuchende anrufen. Mit den Jahren sind es mehr geworden, sagt Dr. Stefan Plöger von der Öffentlichkeitsarbeit. Das hängt nicht unbedingt mit größerer Not zusammen, eher mit der steigenden Zahl der Telefone und Handys. Die Ulmer betreuen zwischen Ostalbkreis und Alb-​Donau-​Kreis ein riesiges Einzugsgebiet, sind aber nur an den Abenden doppelt besetzt. Zu allen anderen Zeiten ist nur eine Mitarbeiterin im Einsatz. Träger sind die katholische und die evangelische Kirche, und so wünschenswert Plöger zufolge eine Aufstockung wäre: „Das ist unrealistisch.“ An Weihnachten und Silvester werden nicht zwangsläufig viel mehr Anrufe verzeichnet, aber die Themen Beziehung, Familie, Partnerschaft, Verlust, Abschied, Trennung stehen stärker im Vordergrund: „Konflikte sind stärker spürbar, werden ganz bewusst und viel intensiver wahrgenommen.“ Auch die Einsamkeit. Die ganz besonders.
Erstaunlich ruhig war’s heuer für die Polizei, so Pressesprecher Bernhard Kohn. Aber es gab die Art Hilferuf, mit denen die Beamtinnen und Beamten das ganze Jahr über konfrontiert sind: Anrufe von Menschen, die verzweifelt sind. Wenn es sich um jemand handelt, der aus Sicht der Polizei professioneller Hilfe bedarf, kann an andere Instanzen verwiesen werden; wenn es sich aber irgendwie machen lässt, so Kohn, „nimmt sich der Beamte selbst Zeit“: Die meisten Anrufer brauchten einfach nur jemanden, der sich Zeit nimmt. Und wenn der Eindruck entsteht, dass wirklich etwas im Argen ist, wird sowieso nicht weitervermittelt: Sobald die Polizei annimmt, jemand könnte andere oder sich selbst gefährden, gibt es einen Hausbesuch. Schwierig wird’s, wenn sich Anrufer nicht die Mühe machen, Telefonnummern zu suchen, sondern schlicht die „110“ wählen und Lagezentrum und Notrufsachbearbeiter beschäftigen. Missbrauch von Notrufen ist kein Kavaliersdelikt, und es gibt Kandidaten, die sich das ganze Jahr über immer wieder so melden — dagegen wird vorgegangen. Aber weil auch ein seelischer Ausnahmezustand als Notfall gewertet werden kann, haben die Beamten die Möglichkeit, das Gespräch auf ein anderes Telefon umzulenken, sprich den Notruf freizumachen, um dann ihr Bestes zu geben und zu helfen. „Typische Weihnachtsdepressionen“, sind, so Kohns Eindruck, seltener geworden, vielleicht, weil nicht mehr gar so viele Erwartungen mit den Feiertagen verknüpft sind. Eher halten Streitigkeiten die Beamten auf Trab. Kohn: „Aber es ist unser tägliches Brot, uns in anderer Leute Händel einmischen zu müssen.“
Von Verletzungen durchs Silvesterfeuerwerk mal abgesehen macht sich die Zeit zwischen den Jahren im Stauferklinikum vor allem aus einem Grund bemerkbar: Wie Ursula Kurzendörfer, stellvertretende Pflegedirektorin, erklärt, ist dann in Notaufnahme und Unfallambulanz einiges los. Wenn Hausärzte auf Notdienste verweisen, wählen Kranke und Verletzte oft den direkten Weg ins Krankenhaus. In der zentralen Notaufnahme wird dann entschieden, ob ambulant versorgt werden kann, oder eine stationäre Aufnahme unumgänglich ist. Und für die Patienten im Krankenhaus haben Haupt– und Ehrenamtliche in den vergangenen Jahren immer mehr Angebote erarbeitet.