Gmünder Eisenbahngeschichte(n), Teil 14: Rainer Aichele beschreibt, wie eng viele Gmünder Biographien mit der Bahngeschichte verknüpft sind

Schwäbisch Gmünd

Rems-Zeitung

Im Jahre 1910 ist die neue Bahnverbindung Richtung Göppingen im Bau. Die „Hohenstaufenbahn“ ist bis heute als „Klepperle“ in liebevoller Erinnerung. Rainer Aichele hat die Historie der damaligen Eisenbahnstrecke und der heutigen Wander– und Radlertrasse dokumentiert und mit wunderbaren persönlichen Erinnerungen ergänzt.Von Rainer Aichele

Freitag, 29. April 2011
Andreas Krapohl
408 Sekunden Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND. Hier der erste Teil von Rainer Aicheles Arbeit, um im Rahmen unserer Serie und im Vorgriff auf die dann folgende Chronik der Einweihung der Bahnlinie im Jahr 1911 zu verdeutlichen, mit wie viel Erinnerungen und Biographien das „Klepperle“ in Verbindung steht:
„Nach dem Bombenhagel auf Dresden im Februar 1945 entschieden sich meine Eltern mit mir aus meiner Geburtsstadt Chemnitz wegzugehen. Der Weg führte über Bayern ins Allgäu. Das Kriegsende erlebten wir in Großholzleute bei Isny, wo wir ca. vier Wochen wohnten. Zu Fuß ging es nach Schwäbisch Gmünd, wo die erste Anlaufadresse das Gebäude (ehem. „Adolf-​Hitler-​Platz“) – inzwischen Bahnhofsplatz 3, I. Stock war. Dort wohnten meine Großeltern väterlicherseits seit 1938. Mein Großvater war „Werkführer“, also Werkmeister, d.h. verantwortlich für die Verkehrssicherheit der in dortigen Omnibushallen stationierten Linienbusse der Deutschen Bundespost. Später wohnten wir vom bis Juli1964 in der Goethestraße 68 zur Miete in einem Dreifamilienhaus der Kunstgießerei Gebrüder Schneider. Die 1. Klasse der Klösterleschule besuchte ich von Herbst 1948 bis Sommer 1949. Mein Schulweg von der Becherlehenstraße war sehr interessant, denn ich querte täglich über den „Sägbock“ hinweg die Bahnstrecke nach Aalen. Natürlich blieb man bei Herannahen eines Zuges auf der Fußgängerbrücke stehen, um sich von der Wolke einer Dampflok einhüllen zu lassen. Zudem kam ich stets am Gaswerk vorbei, wo die Kohlenzufuhr vom Bunker nördlich der Bahnlinie (heute WLZ) mittels Lore quer über Bahn, Rems und B 29 erfolgte, was ich stets mit Interesse und zeitlichen Verzögerungen beobachtete.
Wichtig war das Aufwachsen mit dem „Klepperle“. Das schnaufte und bimmelte von Westen kommend und nach Querung des Remstals bergan fahrend oberhalb der Fabrikgebäude von Götzl, Kreisel, Uhren-​Rapp („Adora“), Schips, Verbeek, Hof bzw. Klaar und Spießhofer & Braun am Berghang unterhalb des Studentenwäldles entlang Richtung Südbahnhof. Allein die Gewöhnung an die Zugbewegungen bergauf oder bergab führte zur Verinnerlichung des Fahrplans und teilweise gestaltete sich danach der Tagesablauf. So erinnere ich mich, dass ich morgens aus dem Bett stieg, wenn gegen 6:40 Uhr der Richtung Göppingen fahrende Zug zu hören – besser nicht zu überhören — war. So reichte stets die Zeit, um nach der Morgentoilette und dem Frühstück sich rechtzeitig auf den Schulweg zu machen. Kurz nach 9 Uhr abends fuhr der letzte Zug Richtung Göppingen, dann war im damaligen Alter die Zeit zum Schlafen gekommen.
Das Klepperle regte Jungen stets auch zu irgendwelchen Streichen an, die aus meiner Erinnerung jedoch ohne größere Folgen blieben. Es wurden beispielsweise Schottersteine auf die Schienen gelegt, um staunend zu erleben, wie diese von den Rädern der Lok zerplatzten. Oder man ließ sich trotz knappen Taschengeldes mal ein 10-​Pfennig-​Stück platt fahren. Wie mir erst jüngst wieder zugetragen wurde, haben ein paar ganz forsche Jungs mal die Schienen auf einer kurzen Distanz eingeölt und sich daran ergötzt, wie die Antriebsräder der Lok kurzzeitig durchdrehten. Am Nachmittag, so gegen Viertel vor drei, fuhr regelmäßig eine einzelne Dampflok Richtung Göppingen. Eines Tages ritt mich offenkundig der Teufel, vielleicht wollte ich anderen mich mutig zeigen, ließ ich angesichts der mit etwa 30 km/​h herannahenden Lok meinen Schlitten zwischen den Gleisen stehen und hielt ihn mit der Schlittenschnur fest. Wie auf dem Schild vor dem Übergang mit „LP“ vorgeschrieben, ertönte von der Lok „läuten und pfeifen“. Da ich jedoch den Schlitten nicht wegzog, hielt die Lok ein paar Meter davor an. Nun zog ich den Schlitten an mich heran, setzte mich darauf und rodelte den Berg hinunter. Der Lokführer soll geflucht haben, wurde mir berichtet und setzte die Fahrt fort. Schon damals nannte man mein Verhalten einen „gefährlichen Eingriff in den Schienenverkehr“, nach dem Strafgesetzbuch ein Verbrechen. Zu meiner Entschuldigung darf ich anführen, dass ich nicht mehr weiß, ob ich damals bereits 14 und somit strafmündig gewesen bin. Und so einer geht dann zur Polizei, mögen jetzt viele sagen oder zumindest denken.
Das „Klepperle“ spielte auch Schicksal und Wetterfrosch
In dem vor einigen Jahren erschienenen Buch über das „Klepperle“ wurden zwei Dinge nicht erwähnt. Hierbei handelt sich im einen Fall um Sport oder genauer gesagt um Fußball, und beim anderen Fall um Politik. Der Fußball, d.h. der 1. FC Normannia, profitierte an manchen Spieltagen vom „Klepperle“. Viele werden sagen, das sei eine Anekdote oder schlicht erfunden. Doch kann ich als damaliger Fan aus eigenem Erleben bestätigen („ich schwöre“), dass die Normannia häufig dann ein Tor erzielte, wenn das „Klepperle“ schnaufend und mit viel Gebimmel oberhalb des Normanniaplatzes bergauf oder bergab fuhr. Offenbar waren die gegnerischen Spieler vom Göppinger Bähnle so fasziniert oder abgelenkt, dass dies den Normannen zum Ausgleich oder gar zum Siegtor verhalf.
Für die Politik war es Anfang der sechziger Jahre noch zu früh. Zunächst möchte ich meine weitere Verbindung zum „Klepperle“ berichten. Am Freitag, dem 2. November 1962, fuhr ich mit zwei weiteren Anwärtern der Polizei um 10:35 Uhr vom Bahnhof mit dem „Klepperle“ nach Göppingen. Dieser Zug hatte eine etwas längere Fahrzeit, weil unterwegs gelegentlich noch in Straßdorf, Reitprechts, Wäschenbeuren oder Birenbach mit Güterwagen rangiert wurde. Am gleichen Tag, nach einigen Formalitäten sowie der ersten Besoldung im Voraus, bekam ich gleich wochenendfrei und saß am frühen Abend bereits wieder im „Klepperle“ nach Schwäbisch Gmünd-​Süd. Generell war das Verlassen des Standortes Göppingen nur jedes zweite Wochenende gestattet, was bis 1964 alle zwei Wochen Fahrten mit dem Klepperle von Göppingen nach Gmünd und umgekehrt bedeutete. Nach Heirat, verbunden mit dreijährigem Wohnsitz in Nürtingen und Dienst beim Polizeiposten in Wendlingen, kehrte ich mit der Familie im Dezember 1969 nach Schwäbisch Gmünd zurück. Wir wohnten bis August 1974 in der Rosensteinstraße, was wiederum bedeutete, dass die Trasse des „Klepperle“ in Reich– bzw. in Hörweite verlief. Da war es selbstverständlich und für die Kinder eine Attraktion, Wochenendausflüge vom Südbahnhof aus zu starten oder dort enden zu lassen.
Das blieb auch so, trotz Umzug nach Bettringen im Sommer 1974 und bis zur endgültigen Einstellung des Bahnbetriebs. Von unserer Wohnung in der Oderstraße aus hörten wir besonders bei Westwindwetterlage das „Klepperle“, wenn es oberhalb der Pfeilhalde den Bogen Richtung Straßdorf befuhr. Wenn also morgens noch vor dem Aufstehen der Zug mit Läuten und Pfeifen zu hören war, wusste ich, es herrscht Westwind, was bedeutete, dass mit Regen zu rechnen war und so war mir klar, auf dem Weg zum Dienst die regenfeste Radbekleidung mit einzupacken. Die vorletzte Fahrt des „Klepperle“ fuhren wir mit bis Göppingen. Der Rückweg erfolgte nach einer weiteren Bahnfahrt nach Salach zu Fuß über Burg Staufeneck und entlang des Rehrückens bis Rechberg und ab dort mit dem Bus nach Gmünd. Wie bei Karl Fischer zu lesen ist, gab es bereits in den Jahren des Wirtschaftswunders erste Rationalisierungsmaßnahmen entlang der Strecke und sogar Stilllegungspläne Mitte der 60er-​Jahre in der ersten Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger. Wegen des schlechten Zustands der parallel verlaufenden Straßenverbindung blieb es jedoch beim Bahnbetrieb, auch wenn ab 1975 an den Wochenenden Schienenersatzverkehr mit Bussen betrieben wurde. Inzwischen regierte in Bonn eine sozial-​liberale Koalition unter Willy Brandt und ab 1974 unter Helmut Schmidt. Dr. Dieter Schulte war der CDU-​Bundestagsabgeordnete des Wahlkreises Backnang-​Gmünd und kämpfte vehement für den Erhalt der Bahnstrecke, u.a. mit Vorschlägen zur Sanierung der Trasse und dem Einsatz modernerer Dieseltriebwagen. Die massiven Proteste der Anliegergemeinden und der Politik bewirkten ein Einlenken der Bundesregierung, die Ende 1979 von großflächigen Streckenstilllegung absah.
Mit dem konstruktiven Misstrauensvotum wurde 1982 Helmut Kohl Kanzler der „geistig-​moralischen Wende“ in unserer Republik. Ende 1982 eröffnete die Bundesbahn das dritte Stilllegungsverfahren. Dr. Dieter Schulte war inzwischen Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium und hatte damit mehr Einfluss als in den siebziger Jahren in der Opposition. Da war plötzlich von den konstruktiven Vorschlägen aus jener Zeit nichts mehr zu hören und es klingt wie ein Treppenwitz der Zeitgeschichte, dass ausgerechnet von denen, die sich zuvor so stark für den Erhalt des Klepperle eingesetzt hatten, das endgültige Aus für diese Bahnstrecke besiegelt wurde. Man muss aber auch in Selbsterkenntnis unserer mobilen Gesellschaft zugeben: Es war eine Abstimmung mit dem Zündschlüssel, die die Signale des Klepperle auf Rot stellten, auch wenn es die „Schwarzen“ zu verantworten hatten.
Das kleine „Klepperle“ in der großen Politik
Mein bescheidenes Mitwirken bestand darin, dass ich als SPD-​Kreisrat zwischen 1979 und 1984 an Resolutionen des Kreistages im Ostalbkreis beteiligt war. Am 27. Januar 1983 berichtete die Rems-​Zeitung aus einer Sitzung des Ausschusses für Kreisentwicklung, Straßenbau und Umweltschutz. Nach einheitlicher Meinung der Kreisräte sollte die Bahn in Betrieb bleiben. Das Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr wurde gebeten, sich für die Erhaltung der Bahnverbindung einzusetzen. CDU-​Kreisrat Karl Kurz sah einen Widerspruch zwischen der Förderung des ÖPNV einerseits und der „Demontage“ auf dem Bahnsektor und er erwähnte den bereits von Dieter Schulte ins Gespräch gebrachte „Ein-​Mann-​Triebwagen“. CDU-​Kreisrat Gerhard Maier bedauerte, dass die Bundesbahn noch keine Anstrengungen für den Fremdenverkehr unternommen habe. Er erinnerte daran, dass der für Rechberger Bürger und Touristen geltende Bahnhof Metlangen-​Hohenrechberg heiße, woraus zu schließen sei, welche Bedeutung dieser Haltepunkt für den Luftkurort Rechberg habe. „Kritische Anmerkungen machte Kreisrat Rainer Aichele (SPD)“, so die RZ weiter. „Zu fordern sei leicht, wenn es nichts kostet. Die Bundesbahn sei mehr oder weniger gezwungen worden, den Betrieb einzuschränken. Autobahnbau und eine florierende Bundesbahn passen, so deutete Aichele an, nicht zusammen. Ihm sei auch unklar, warum sich die Bahn mit dem Bahnbusverkehr selbst Konkurrenz mache. Der Landkreis müsse im Blick auf die Bahn an die Industriebetriebe herantreten und auch für den Fremdenverkehr etwas tun.“ Es half nichts und so blieb nur noch die Teilnahme an der letzten Fahrt des Klepperle am 2. Juni 1984. Mit meiner Familie machte ich die „vorletzte Fahrt“ mit, die wir ab Göppingen noch bis Salach fortsetzten. Von dort aus wanderten wir über das Staufeneck und den Rehrücken bis Rechberg-​Vorderweiler und fuhren von dort mit dem Bus zurück.