Gmünder Eisenbahngeschichte(n), Teil 16: Bahnkunden wegen „Verächtlichmachung einer staatlichen Einrichtung“ angezeigt

Schwäbisch Gmünd

Rems-Zeitung

Mit Glanz und Gloria wurde dieHohenstaufenbahn (Klepperle) vor 100 Jahren eingeweiht. Hernachstartete sogleich der Alltagsbetrieb, der besonders Straßdorf einen wirtschaftlichen Aufschwung verlieh. Auffallend dann 1912 ein deutlicher Knickin der Begeisterung der Menschen.

Samstag, 14. Mai 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
171 Sekunden Lesedauer

Von Heino Schütte
SCHWÄBISCH GMÜND. Die Einweihungszeremonie des Jahres 1911 galt freilich zunächst nur der halbfertigen Hohenstaufenbahn: Die 16 Kilometer lange Neubaustrecke führte bis nach Wäschenbeuren. Erst am 14. Mai 1912 konnte die Gesamtstrecke ihrer Bestimmung übergeben werden.
Schon bei der Übergabe der Teilstrecke wussten besonders die Straßdorfer so richtig zu feiern. Die Freude an diesem Tag galt auch dem Sieg in einem jahrelang geführten Wettstreit mit der Gemeinde Waldstetten. Denn auch dort hofften die Menschen auf einen direkten Bahnanschluss, der für jede Ortschaft das große Tor zur Welt darstellte.
Fotos hatten in jenen Tagen ja noch Seltenheitswert, so dass die Redakteure und Berichterstatter der Rems-​Zeitung gewaltig in die Auswahl einer äußerst blumigen Sprache griffen, um die Begeisterung des Volkes und vor allem auch die Schönheit der „Panoramabahn“, wie die neue Bahnlinie auch genannt wurde, zu beschreiben. Wenn die Chronisten damals ein ganz extremes Ereignis in der Zeitung darstellen wollten, dann waren es Zeichnungen.
Der Ministerpräsident von Weizsäcker höchstpersönlich reiste mit zahlreichen hochrangigen Beamten per Eilzug aus Stuttgart kommend nach Gmünd, um mit einer Festgesellschaft von fast 400 Personen den „Triumphzug“ in Richtung Göppingen zu besteigen. „Ein herzerfreuendes Bild!“ bescheinigte die Rems-​Zeitung den Straßdorfern, wo am neuen Bahnhof alle Vereine mit ihren Fahnenabordnungen Aufstellung genommen hatten. Salutschüsse und Gesänge empfingen den Festzug. Die Ehrengäste mussten auf ihrem weiteren Weg viel Geduld aufbringen, denn an jeder Station – und es gab viele – entlang der Hohenstaufenbahn stand der jeweilige Schultheiß, um zu einer staatstragenden Festrede auszuholen. Am Bahnhof Metlangen-​Hohenrechberg wartete der Rechberger Schultes Schenk, in Lenglingen sogar Schultheiß Ulrich aus Großdeinbach. Allein schon das zeigte die räumliche Ausstrahlung der neuen Bahnstrecke mit ihren kleinen Bahnhöfen. Gerne nahmen beispielsweise die Rechberger den steilen Fußweg hinab nach Metlangen in Kauf, um dort in das hochmoderne Verkehrsmittel einzusteigen. Der Eisenbahn gehörte die Zukunft, wie in jenen Tagen auch eine Grafik der Rems-​Zeitung mit skizzierten, mächtigen Dampfloks „für den zukünftigen Weltverkehr“ aufzeigte. Der Bahnanschluss löste im Straßdorfer Süden zwischen Bahnhof und Ortsrand eine rege Bautätigkeit aus. Mit zahlreichen Handwerkerbetrieben und neuer Gastronomie kann durchaus behauptet werden, dass es sich um das erste geschlossene Gewerbegebiet der aufstrebenden Ortschaft handelte. Noch heute sind entlang der Klepperle-​Trasse zahlreiche Rampen und Güterschuppen sichtbar, ebenso der Verlauf von Neben– und Abstellgleisen. Entlang der Hohenstaufenbahn entwickelte sich fast schon eine Industrialisierung mit Betrieben von beachtlicher Größe.
Doch beim Studium der Eisenbahn-​Zeitungsnachrichten im Verlauf des Jahres 1912 zeigt sich eine Auffälligkeit: Bemerkenswert kritisch und couragiert äußern sich die Lokalredakteure zu Pleiten, Pech und Pannen auf der neuen Bahnlinie. Was war da nur geschehen, dass der Glaube an die neuen Techniken diesen Knick bekam? Möglicherweise spielte das Trauma des Untergangs des als unsinkbar geltenden Ozeanriesen Titanic eine Rolle fürs kritische Nachdenken über die Frage, ob der Mensch mit Technik die Elemente beherrschen kann.
Da taucht beispielsweise die Schreckensmeldung auf, dass wegen zu hoher Passagierzahl der Sonntagszug an der Steigung nahe des Krettenhofs bei Wäschenbeuren hängengeblieben sei. Mehrfach, so ist in der Rems-​Zeitung zu lesen, sei der Hohenstaufenbahn „der Schnaufer ausgegangen.“ Eine zweite Lok musste herangeholt werden, um das liegengebliebene Klepperle abzuschleppen. Die Fahrgäste mussten ihren Weg zu Fuß fortsetzen. Etliche holten sich hierbei offenbar einen fürchterlichen Sonnenbrand. Die Rems-​Zeitung wird da im Frühling 1912 deshalb zu einem zornigen Bahn-​Kritiker. Der Königlich Württembergischen Bahnverwaltung wird vorgehalten, dass die Hohenstaufenbahn dermaßen teuer war, so dass mindestens doch noch auch Geld dafür da sein sollte, um entlang der Bahntrasse Schutzhütten für gestrandete Passagiere zu errichten.
Und es kommt noch schlimmer: Eher süffisant berichtet die RZ vor 99 Jahren, dass „in voller Fahrt“ des sich den Berg hinauf quälenden Klepperle zwei übermütige Burschen ausgestiegen seien, um zur Gaudi der anderen Fahrgäste das furchtbar langsame Bähnle ein wenig anzuschieben. Das verstieß gegen alle Sicherheitsregeln und vor allem gegen die Ehre der stolzen Königlich Württembergischen Eisenbahn. Zugführer und der Bahnhofsvorsteher zogen die beiden ungehorsamen Bahnkunden zur Rechenschaft. Sie erhielten eine polizeiliche Anzeige. Tatvorwurf: „Verächtlichmachung einer staatlichen Einrichtung“.