Gmünder Bahnhof als Tor zur neuen Heimat

Schwäbisch Gmünd

Rems-Zeitung

Es war die gewaltigste humane, soziale, wirtschaftliche und städtebauliche Herausforderung, die Gmünd je erlebt hat: Als Folge des von Deutschland angezettelten Weltkriegs und auch der gnadenlosen Vertreibungspolitik der Sieger kamen 1946 am Bahnhof Gmünd 16 446 Heimatvertriebene an.

Samstag, 25. Juni 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
265 Sekunden Lesedauer


Von Heino Schütte
SCHWÄBISCH GMÜND. Der Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs hat nicht einmal eine genaue Opferzahl: Zwischen 55 und 80 Millionen Menschen, so die Schätzungen, verloren durch die Gewalt von Militär und Fanatikern ihr Leben. Mit 37 Millionen Toten beklagt die Sowjetunion die schlimmsten Opferzahlen. Die Besetzung der von Deutschen besiedelten Gebiete in Ost und Südosteuropa wurde zu einem grauenhaften Rachefeldzug. Vielerorts lebten teils Jahrhunderte hindurch deutsche Siedler in guter und freundschaftlicher Nachbarschaft mit der bodenständigen Bevölkerung zusammen. Doch die von den Siegermächten am Ende des Zweiten Weltkriegs propagierte Vertreibungspolitik weckte in den betroffenen Ländern Gewinnsucht und Raffgier auch von vielen Schergen, die noch wenige Jahre zuvor die liebsten Verbündete der Deutschstämmigen waren. Konkret sah das so aus, dass innerhalb von wenigen Stunden die Bewohner von kompletten Ortschaften ihr Hab und Gut in Koffern und Rucksäcken verpacken mussten, um sich dann auf Plätzen zusammen zu treiben lassen. Von dort ging’s im Fußmarsch unter Bewachung zum nächsten Bahnhof. Kleinkinder und gebrechliche Greise saßen auf Leiterwagen. Das Vertriebenen schicksal bewältigten meist Frauen, weil die Männer überwiegend in Kriegsgefangenschaft, gefallen oder verschollen waren. Vor der Abreise in Vieh– und Güterwaggons der Sonderzüge waren die Menschen der Willkür ihrer Bewacher ausgesetzt. An vielen Bahnhöfen war es die grausame Wiederholung jener Szenen aus den Vorjahren, als etwa sechs Millionen Juden mit Hilfe der Eisenbahnen in die Vernichtungslager deportiert wurden.
Für Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebene begann schon in der letzten Kriegsphase die Odyssee. 1946 war es eine riesengroße und erzwungene Völkerwanderung in Richtung Westen. Tage– und wochenlang dauerten auf dem Schienenweg die Irrfahrten ins völlig Ungewisse. An den Grenzen zu Deutschland selbst dann entwürdigende Szenen, als die bedauernswerten Menschen in Durchgangslagern zunächst mit Giftpulver entlaust und nach Krankheiten untersucht wurden. Transitländer waren bestrebt, diesen Menschenstrom möglichst schnell durchzuschleusen. Nur die Behörden der Alliierten bestimmten, wo die Reise zu enden hatte. Auf der Liste der Zielorte ganz oben standen die Bahnhöfe von solchen Städten, die am wenigsten Kriegszerstörungen zu beklagen hatten. Einer der wichtigsten Bestimmungsorte: Schwäbisch Gmünd. Der Gmünder Bahnhof war zwar wiederholt Ziel von Jagdbomberangriffen gewesen, doch die Schäden an den Bahneinrichtungen konnten stets schnell wieder behoben werden. Die Infrastruktur wie z.B. mit Bekohlungs– und Wasserbetankungsanlagen (für die Dampfloks) funktionierte. Das Problem: Die Remsbahn in Richtung Stuttgart war noch lange Zeit durch die Zerstörungen im Bereich der Landeshauptstadt und am Eisenbahnknoten Cannstatt (Rosensteinbrücke) völlig abgeschnitten. Ganz bemerkenswert in dieser Phase: Allein die Klepperle-​Nebenstrecke Gmünd-​Göppingen hielt mit wenigen kleinen Lokomotiven die Verbindung nach Westen aufrecht, um die Versorgung besonders mit der wichtigen Kohle ein klein wenig aufrecht zu erhalten.
Das Klepperle musste zeitweise die Remsbahn ersetzen
Aus dem Osten rollten die Sonderzüge mit den Heimatvertriebenen heran. Der erste Transport im Gmünder Kreisgebiet stoppte bereits in Mögglingen, wo 1500 Schlesier „strandeten“. Am 25. Januar 1946 wurde dann der Gmünder Bahnhof erstmals für einen Heimatvertriebenenzug das Tor zur Zukunft von letztendlich 16 446 Neubürgern, die bis zum 6. Dezember 1946 an den Bahnsteigen erstmals den Boden ihrer noch völlig unbekannten neuen Heimat betraten. Die Ersten im Januar waren Ungarndeutschen. Josef und Lukas Zurmühl und Stefan Tobias, damals noch Kinder, schilderten der Rems-​Zeitung ihre Erinnerungen an die sechstägige Zugreise aus Krottendorf, unweit von Budapest, nach Gmünd. Um 1750 waren dort ihre Vorfahren hochwillkommene Siedler. Doch ab 1945 machten Plünderer und Vergewaltiger Jagd auf die Deutschstämmigen. So war die Ausweisung Terror und Erlösung zugleich, wie die Männer ihre zwiespältigen Kindheitserinnerungen beschreiben. Die Zugreise ins Ungewisse war für die Kinder in den 32 Waggons ein Abenteuer, während die Eltern sich verzweifelt bemühten, beim Blick nach draußen und in der vorbeihuschenden Landschaft irgendwelche Anhaltspunkte zu erhaschen. Die letzte Etappe auf der Remsbahn haben alle noch deutlich in Erinnerung. Bei einem Halt in Aalen haben sich die Blicke der Vertriebenen verfinstert. Denn der Namen dieser Stadt, der auf den Bahnhofsschildern zu lesen war, vermittelte in der dunklen und kalten Winternacht. ungute Gefühle, denn im Dialekt der Krottendorfer bedeutete Aalen eher eine Anlehnung an die Begriffe „allein, einsam und verlassen“. Der Zug rollte bald weiter das Remstal hinab. Draußen wurden in der Morgendämmerung schemenhaft Äcker, Wälder und Berge sichtbar. Eine freundliche Landschaft. Als die Ungarndeutschen dann „Schwäbisch Gmünd“ lasen, da war das fast schon ein Glücksgefühl. Man wusste, dass man im Schwabenland angekommen war. Und die Schwaben hatten schon immer einen guten Ruf als freundliche und fleißige Menschen.
Das war nur der Anfang: Es folgten weitere Eisenbahn-​Personentransporte mit jeweils bis zu 1300 Menschen aus dem Sudetenland, aus Rumänien, der Slowakei, Südmähren und weiteren Gegenden. In Hallen und Baracken wurden eilends Sammelunterkünfte eingerichtet. In höchster Not veranlasste die Stadtverwaltung eine Wohnraumerfassung. Fast jede Gmünder Familie musste zusammenrücken, um im eigenen Haus oder Wohnung mit Heimatvertriebenen eine Zwangswohngemeinschaft einzugehen, was nicht ohne Reibereien blieb.
Es dauerte aber nicht lange, da nahmen die Heimatvertriebenen ihr Schicksal selbst in der Hand und wurden in der neuen Heimat ihres Glückes Schmied. Genossenschaftlich nahmen sie trotz Materialknappheit mutige Siedlungs– und Wohnbauprojekte in Angriff, so beispielsweise die Rehnenhof-​, Schwerzer– oder Lindenfeldsiedlung.
Starke und mutige Leistungen der Heimatvertriebenen
Phänomenal auch die Teilhabe am Wirtschaftswunder in Gmünd. Ein glänzendes Beispiel der sehr vielen Heimatvertriebenen aus Gablonz war die Neugründung der traditionsreichen Glasindustrie, was wunderbar zur Gold– und Silber-​Handwerkstradition in Gmünd passte.
Innerhalb von wenigen Monaten bestand die Gmünder Bevölkerung zu einem Drittel aus Neubürgern. Die Ankunft der Heimatvertriebenen am Bahnhof war auch die Geschichte von bürgerschaftlichen Hilfswerken, die gegründet wurden, um die Not schnell zu mildern. Zu den ersten Maßnahmen gehörten auch Wärmestuben, Kleiderspenden oder die Verteilung von Lebensmittelpaketen. Am Bahnhof nahmen ungezählte Schicksalswege ihren Lauf: Ein ehemaliger Großgrundbesitzer war froh, in der Gmünder Umgebung wenigstens eine Stelle als Knecht zu finden. Ein ehemaliger Werksleiter aus Gablonz war glücklich, wieder als Glasbläser starten zu können. In dieser Stunde Null erwies sich erneut die Remsbahn und der Bahnhof als Segen, weil die Eisenbahn sehr dazu beitrug, Material heran– und Arbeitsplätze zu schaffen. Die US-​Armee verwandelte die ehemalige Schenk-​Fabrik in der Weststadt dank des guten Bahnanschlusses in ein Instandsetzungswerk, das zum begehrten Arbeitgeber wurde. Im wieder schneller werdenden Takt der Dampfloks auf der Remsbahn spiegelte sich das Wirtschaftswunder wider. Die Eisenbahn musste schneller und leistungsfähiger werden. Ruf und Forderung nach Elektro– und Dieselbetrieb wurden lauter.