RZ-​Serie (1): Gärten über den Dächern der Stadt /​St. Anna hilft sehen, riechen, hören, schmecken, fühlen — und erinnern

Schwäbisch Gmünd

Rems-Zeitung

Wer einen kennt und denkt, dieser eine sei wie alle anderen, hat keine Ahnung. Dachgärten sind so unterschiedlich wie die Menschen, die sie anlegen. In den kommenden Wochen stellt die RZ diese Vielfalt vor. Den Anfang macht die grüne Insel auf dem Dach des Seniorenzentrums St. Anna.

Donnerstag, 04. August 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
123 Sekunden Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND (bt). Der alten Dame tut dieser Garten spürbar gut. Sie die so lange einen tausend Quadratmeter großen Garten bewirtschaftete, ist müde geworden. Vieles hat sie vergessen, anderes, das ein Leben lang selbstverständlich war, stellt nun ein Problem dar, an dem sie in klaren Momenten zu verzweifeln droht. Mitarbeiten kann sie längst nicht mehr, aber hier draußen, sind Sinneseindrücke mit Erinnerungen verbunden, die ihr das Leben, das sie einst gelebt hat, zurück bringen, das Gärtnern etwa, das Einmachen, das Genießen. Pflücken und ernten, riechen, schmecken, die Blumenbeete im Wechsel der Jahreszeiten sehen, das war für sie und andere dementen Bewohner des Wohnbereichs Luise ein Mehr an Lebensqualität, das sich für Nicht-​Betroffene kaum ermessen lässt. Als es den Garten noch nicht gab, erklärt Wohnbereichsleiterin Gabriele Hamler, wanderten die unruhigen Bewohner oft durchs Haus oder gar draußen umher. Wurden sie dann zurück gebracht, fühlten sie sich in ihrem Bewegungsdrang zusätzlich eingeschränkt. Welchen Unterschied machen da der Rundkurs auf dem Dachgarten entlang blühender Hochbeete, und bepflanzter Kübel, die Sitzgruppen, die Liegestühle. Roland und Ilse Holl verbringen dreimal in der Woche, mindestens, die Mittagszeit mit den zehn Bewohnern: Mal wird gekocht, mal ein Salat zubereitet. Wenn der eine die Suppe mit dem Messer ist, drücken sie ihm einen Löffel in die Hand, wenn die andere nichts mehr trinkt, finden sie heraus, dass sie immer noch Lust auf Kaba hat. Die Zucchini-​Suppe wird mit Kartoffeln sämiger gemacht, damit sie trotz Schluckbeschwerden gegessen werden kann, und wenn jemand plötzlich nur noch Süßes isst, darf er die Reste aus dem Pudding-​Topf löffeln – und das alles in diesem Garten, der ihnen die Natur zurückgebracht hat. Die rollstuhlgerechten Hochbeete bieten nicht nur Stauden und Blumen fürs Auge: Kräuter finden sich hier, Erdbeeren, Johannisbeeren, Stachelbeeren. Zudem wachsen Zwiebeln, Tomaten, Paprika, Fenchel und Salate; die Pflanzen sind durchweg essbar, um einem Unglück vorzubeugen.
Am Anfang war dort oben lediglich ein Flachdach mit Kiesbett zu finden. Es bedurfte der gemeinsamen Anstrengung vieler Haupt– und Ehrenamtlicher, im Alter zwischen 15 und 75, daraus einen blühenden, einen beschützten und beschützenden Garten für die an Demenz erkrankten Bewohner zu machen. Kaffee trinken auf dem Rasen, Mittagessen unter den Sonnenschirmen, spazieren gehen durch die gepflegte Anlage, sich vom Summen der Bienen und dem Vogelgesang in den Schlaf begleiten lassen — all das kann nicht ohne weiteres angeboten werden. Lothar Krieger aus dem betreuten Wohnen, der früher ebenfalls einen großen Garten hatte, nimmt sich der Anlage an, jätet, pflanzt, sieht ganz allgemein nach dem Rechten und überlegt sich immer wieder neu, was sich verbessern lässt: So will er im Herbst Krokus– und Tulpenzwiebeln setzen, um bereits ganz früh im Jahr die ersten Blumen erlebbar zu machen. Freude und Farbe im 4. Stock.