Ortrud Seidel ist tot

Schwäbisch Gmünd

Rems-Zeitung

Ortrud Seidel ist im Alter von 87 Jahren gestorben. Sie hat vielen geholfen. Neben den jungen Leuten, die ohne sie kaum eine Chance gehabt hätten, gab es für sie ein großes Anliegen: die Zeit der Judenverfolgung in Gmünd nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Samstag, 03. September 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
196 Sekunden Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND (bt). Wer sie gekannt hat, weiß, dass sie sich Neugier und Lebensfreude und die Fähigkeit, in Frage zu stellen, auch sich selbst, bis ins hohe Alter bewahrt hat. „Meine Ansichten und mein Denken verändern sich mit jedem Lebensjahr“, hat sie mal gesagt, „Veränderung heißt, dass man noch lebt“. Nun ist Ortrud Seidel tot. Irgendwie unvorstellbar, sie nicht mehr fragen, sie nicht mehr sehen zu können, nicht mehr mit ihr zu lachen.
Sie war froh am Leben; sie habe so viel Gutes und Schönes erfahren. Das Gute und Schöne in ihrer Biografie zu finden, fällt nicht immer leicht, aber sie hat es so empfunden. Außerdem hat sie erfahren, dass Schicksalsschläge, „die einen am Boden zerstört liegen lassen“, stärker und reifer machen, und so nahm sie auch das an. Vor allem war sie dankbar für „die lieben Menschen“, die ihr Leben reich gemacht haben – bis hin zu Schülerinnen, die ihr bei der Haushaltsauflösung des verstorbenen Bruders zur Hand gingen, oder zum flüchtig Bekannten, der ihr bei einem schwierigen Umzug geholfen hat. Wie vielen sie selbst zeitlebens so ein lieber Mensch war, war ihr sicher nicht bewusst. Die Sterbebegleitung ihres Bruders und „menschliche Enttäuschungen“ nach dessen Tod, aber auch ihr eigener Schlaganfall haben Ortrud Seidel in den vergangenen zehn Jahren gezeichnet. Wirklich verändert hat es sie nicht. Wie eh und je ging sie gegen Vorurteile an, und der Dialog mit Freunden sowie ihre Bücher wurden sogar noch wichtiger. Das „memento mori“, der Gedanke an den Tod, war in den vergangenen Jahren ebenfalls ständiger Begleiter. Das half ihr zum einen, die schönen Seiten des Lebens noch intensiver zu erfahren, zum anderen war es ihr ein Trost: Sie wisse jetzt, dass ihr nur so viel zugemutet werde, wie sie tragen könne. „Ich lebe bewusst, ja freudig auf meinen Tod zu; vielleicht finde ich dann Antworten auf meine unbeantworteten Fragen.“ Das ist ihr zu wünschen, aus ganzem Herzen.
„Ich wollte immer ein besserer Mensch werden.“
Ortrud Seidel wurde im Mai 1924 in Neresheim geboren und kam im Alter von drei Jahren nach Gmünd. Die Kindheit war geprägt vom allzu frühen Tod des Vaters, von der Begeisterung, die sie als Schülerin des heutigen Parler-​Gymnasiums für Sprachen entwickelte, aber auch von Freundschaften; unter anderem die junge Jüdin Edith Laster war ihr nahe, was ihr späteres Lebenswerk sicherlich beeinflusst hat. Nach dem Abitur wurde Ortrud Seidel im „Landdienstlager“ Jebsheim im Elsass eingesetzt, um Gräben auszuheben und Panzersperren zu errichten. Offiziere einer SS-​Polizeidivision erzählten von Erschießungen, einige voller Stolz, einer verzweifelt – die Ermordeten, so meinte er, erschienen ihm im Schlaf. Für Ortrud Seidel war dies ausschlaggebend. Sie verließ das Lager. Als sie gefunden und zurückgebracht wurde, wartete bereits ein Brief aus dem Hauptquartier: Sie habe Fahnenflucht begangen, was mit Tod durch Erschießen geahndet werde. Schieres Glück ließ sie davonkommen, in ihr zweites Leben.
Ihr erster Verlobter ist im Krieg gefallen, auch danach „bin ich nie einem Mann in die Ehe gefolgt“. Sie folge ihrem Stern, meinte Ortrud Seidel stets, keinem Mann.
Die Arbeit als Lehrerin war für sie von größter Bedeutung: Talente in verkannten, vernachlässigten, verstoßenen Kindern zu erkennen und zu fördern und zu sehen, wie die Saat aufging, das sei ein Geschenk. Als Vollblutlehrerin befasste sie sich mit den Sprachen ihrer ausländischen Zöglinge – hier lernte sie italienisch und spanisch zu sprechen, dort türkisch und griechisch, und als sie an einen kleinen Jugoslawen geriet, der ihrer Hilfe bedurfte, besorgte sie sich „Serbokroatisch für Anfänger”. Sie hat mit buddhistischen Mönchen meditiert und sich mit christlichen und jüdischen Glaubensinhalten auseinander gesetzt: „Ich wollte nie aufhören, an mir zu arbeiten; ich wollte immer ein besserer Mensch werden“. Für die Stadt wichtig war die Arbeit an ihrem Buch „Mut zur Erinnerung – eine persönliche Spurensuche“, im Verlag der Rems-​Druckerei erschienen. Es ist die intensive Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Schicksal der Juden in Gmünd, der sie die Bekanntschaft „großartiger Menschen“ verdankte, vor allem aber die Hoffnung, Denkanstöße gegeben und etwas bewegt zu haben.
„Ich bin froh, dass ich beizeiten gelebt und die Welt gesehen habe“ – diese Erkenntnis am Lebensabend wollte Ortrud Seidel auch als Rat an junge Menschen verstanden wissen. Reisen bildet, wenn man bereit dafür ist, sagte sie, bereit, zu sehen, zu hören, zu lernen. Mit derselben Offenheit und Aufgeschlossenheit, mit derselben Herzlichkeit, mit der sie Ausländer in Gmünd betreut hat, ging sie auch in der Fremde auf Menschen zu – auf Menschen, die das Leben lieben, wie sie es immer getan hat.