„Da geht Menschlichkeit verloren“: Robert Antretter sprach über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche

Schwäbisch Gmünd

Rems-Zeitung

Gestern Abend sprach einer über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche, der sich zehn Jahre so intensiv wie nur möglich mit der Aufarbeitung beschäftigt hat: Robert Antretter, vormals Vorsitzender der entsprechenden Kommission, war zu Gast im von Franz Merkle geleiteten „Forum Gamundia“ in der St. Loreto-​Aula.

Dienstag, 20. November 2012
Rems-Zeitung, Redaktion
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Von Birgit Trinkle

SCHWÄBISCH GMÜND (bt). Als Alfred Heusel fragte, ob die Kirche nicht viel zu spät reagiert habe, räumte Antretter dies unumwunden ein. Jahrzehntelang sei dieses Thema „weggedrängt“ worden. Eine zentrale Aussage galt bestimmten „erzkonservativen Kreisen“: Wer für undenkbar halten wolle, dass es Missbrauchsfälle gebe, „schadet der Kirche mehr als jeder andere und bestärkt die, die alles unter den Teppich kehren wollen.“ Antretter erklärte aber auch, dass Gebhard Fürst nicht, wie andere Bischöfe, 2010 aus aktuellem Anlass reagiert habe, sondern bereits 2002. Dass in der entsprechenden Kommission in der Diözese Rottenburg-​Stuttgart sechs Mitglieder aus der Kirche und sechs als Fachleute „von außen“kommen: „Das ist die einzige, die nicht von der Kurie bestimmt wird.“ Und in den Jahren, in denen er, der langjährige SPD-​Bundestagsabgeordnete, dem Gremium vorsaß, habe es keine Empfehlung gegeben, die Fürst nicht in vollem Umfang zu seiner Entscheidung gemacht habe; dem Bischof sei es von Anfang an um Transparenz und Glaubwürdigkeit gegangen. Wichtig war ihm die Aussage: „Diese Arbeit hat mich der Kirche näher gebracht, als ich ihr vorher stand“; er sei in Pfarrhäusern und Klöstern großartigen Menschen begegnet.

Ja, das nimmt mich mit“, hat er mal gesagt und damit die Opfer gemeint. Die Summe seiner Erfahrung aus der Arbeit mit Psychologen und Psychotherapeuten: „Manchen lässt’s nicht los, und es zerstört Persönlichkeit und Seele.“ Gestern bemühte er sich freilich auch, Seiten aufzuzeigen, die von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen würden. Er erzählte vom Priester, den die eigene Familie von der Maifeier ausgeschlossen hat, aus Angst, die Eltern der eingeladenen Kinder könnten Bedenken haben. Vom Internatsleiter, der sagte, er bringe es nicht fertig, einem heimwehkranken Kind nicht über den Kopf zu streicheln – „viele trauen sich das nicht mehr“. Auch hier war Antretter ganz deutlich: „In einer Welt, die so kalt wird, dass solche Zuwendung nicht möglich ist, möchte ich nicht leben.“ Menschlichkeit gehe verloren.

Er sprach auch von all den verheirateten Pädophilen an der tschechischen Grenze, davon, dass sich „90 bis 92 Prozent aller Fälle im familiären Bereich abspielen“: Pädophilie, so habe er gelernt, sei nicht durch eine Beziehung kompensierbar, und sie sei nicht heilbar. In diesen zehn Jahren habe die Kommission 80 Fälle bearbeitet, die bis zu 60 Jahre zurückreichten, ein Zeitraum, in dem es einige zigtausend Priester gegeben habe: „Wir hatten sechs geklärte Fälle, einen ungeklärten.“ Mittlerweile griffen die Präventionsmaßnahmen, so würden die Priesteramtsanwärter Tests unterworfen. Immer wieder erklärte Antretter freilich auch, es gebe keine Entschuldigung für ein Verbrechen; an die Kirche würden höhere Ansprüche gestellt: „Das darf man.“

Robert Antretter erzählte im Dialog mit Franz Merkle sehr kurzweilig aus seinem Leben, seinem Werdegang in der SPD und seinem Einsatz für die Lebenshilfe, schilderte später Fälle und die Versuche, Opfern, aber auch möglichen Opfern zu helfen und verdeutlichte das Problem, zu urteilen, wenn eine Seite tot oder dement ist. Auch von seinen Begegnungen mit Papst Benedikt sprach er – dessen radikale Verurteilung des sexuellen Missbrauchs in Irland sei nicht zu überbieten.