Franz Müntefering über Wulffs Rücktritt

Schwäbisch Gmünd

Rems-Zeitung

„Alter hat Zukunft“, lautete das Thema, über welches Franz Müntefering bevorzugt sprechen wollte. Er tat es dann auch — aber zunächst war das alles überragende tagespolitische Ereignis dran: der Rücktritt von Bundespräsident Christian Wulff.

Freitag, 17. Februar 2012
Rems-Zeitung, Redaktion
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SCHWÄBISCH GMÜND (rw). Christian Lange hatte Franz Müntefering eingeladen zum „Backnanger Gespräch“ am Abend. Aber schließlich hat der Wahlkreis noch eine südöstliche Hälfte, „deshalb muss er auch nach Schwäbisch Gmünd“, so Lange gestern nachmittag im Café Spielplatz.
Jetzt steht also wieder eine Bundesversammlung bevor, für Lange ist es seit 1998 die fünfte, für Franz Müntefering wird es die zehnte sein — seit 1974, der ersten, an der er teilnahm, „in Bonn im Beethovensaal.“ „Damals ging Heinemann, Scheel kam. Willy Brandt war gerade als Kanzler zurückgetreten, Helmut Schmidt noch nicht Kanzler“, erinnert sich der SPD-​Politiker. So wird man sich mit zunehmendem Alter selbst historisch, womit man ja schon irgendwie beim ursprünglichen Thema blieb.
Er freue sich darüber, dass Bundeskanzlerin Merkel jetzt auf die SPD zugehe, sagte Christian Lange. Jetzt haben die Parteien 30 Tage Zeit, um einen Kandidaten zu finden, „die Koalition hat eine Mehrheit von vier Stimmen in der Bundesversammlung. Letztes Mal hatte sie eine von 40. Und da brauchte es drei Wahlgänge.“ Letztes Mal, bekennen beide, hatten sie Gauck gewählt. Und wer könnte jetzt Kandidat werden? Franz Müntefering wehrt ab: „Keine Namen. Da darf jetzt keiner verbrannt werden, da muss eine Linie reingebracht werden.“ Wobei die Verhandlungen sowieso nicht lange vertraulich bleiben würden.
Der Rücktritt von Christian Wulff sei konsequent und nötig gewesen. „Man wünscht sich, dass es gut läuft an der Spitze, ich war zuerst enttäuscht, dann entsetzt. Wir müssen eine Lösung finden, die das Vertrauen in die Institution wieder aufbaut.“ Für die Demokratie sei ein Schaden entstanden. Lange vermutet, dass Wulff der Ehrensold für Bundespräsidenten nicht zusteht, so jedenfalls sei die Auskunft des wissenschaftlichen Dienstes gewesen, „es ist einmalig, dass eine Staatsanwaltschaft gegen den Bundespräsidenten ermittelt.“
Wie lange die Koalition noch halte? Mal abwarten bis nach der Wahl in Schleswig-​Holstein im Mai. Die FDP sei inzwischen eine „unkalkulierbare Größe“ geworden: „Merkel hat sich längst gedanklich von denen verabschiedet. Was soll sie auch anderes machen.“ Ob die Piraten die Nachfolge der FDP antreten könnten, gerade bei liberalen Schwerpunkten? Das zumindest hält der SPD-​Politiker für fraglich. Die Piraten hätten eine wichtige Debatte über den Umgang mit den Medien angestoßen, aber sie seien „partikularistisch ausgerichtet.“ Die gemeinsame Basis der gesellschaftlichen Debatte dürfe nicht verloren gehen, „man muss es selbst denken, nicht googeln.“
Doch dann hin zum Thema. Franz Müntefering, heute 72, war SPD-​Parteivorsitzender und Vorsitzender der Bundestagsfraktion, außerdem Bundesminister für Arbeit und Soziales und, im ersten Kabinett Schröder, 1998, auch mal Verkehrsminister („die Bedeutung der Mobilität hab’ ich schon begriffen“). Seit 2009 ist er wieder einfaches Mitglied des Bundestages. Als Kommunalpolitiker begann er einst. Das halte er bis heute für wichtig, es gebe die Erdung: „Wenn einer sagt, die Bushaltestelle ist kaputt, dann kannst du nicht sagen: les das Godesberger Programm, sondern du musst dich um die Haltestelle kümmern.“ Politik müsse man lernen, „sie ist nicht eine Frage des guten Willens, sondern auch des Könnens.“
Jetzt will Franz Müntefering einen Beitrag dazu leisten, dass sich die Gesellschaft über die Folgen des Alterns klar wird und darauf reagiert. Von den Unternehmen, die auf Fachkräfte angewiesen ist, über die Entlastung der Gruppe der 20– bis 45-​Jährigen durch Ältere, die eine Patenrolle übernehmen, hin zu Pflegekräften und Erzieherinnen. „Man muss über die Wertschätzung von Dienstleistungs-​Jobs sprechen.“ Es gehe um praktische Dinge und um die Orientierung in dieser Gesellschaft: „Wie wollen wir leben in 40 Jahren?“ Weder Junge noch Alte könnten diese Fragen allein beantworten, „ich hab’ nicht recht oder unrecht, weil ich 72 bin.“ Aber Erfahrung sei schon vorhanden, die das Wissen der Jungen ergänzen könnte: „Die 65-​Jährigen laufen nicht mehr so schnell, aber sie kennen die Abkürzungen.“
Zehn Jahre Bundeswehr in Afghanistan. Die Frage am Schluss: War es sinnvoll, war es das wert? Er sei kein Pazifist, saht Müntefering, „es kann Situationen geben, wo man sich einmischen muss.“ Wenn es um Menschenrechte geht. „Es hat mich viele Jahre umgetrieben. Wir verteidigen nicht nur unsere Freiheit am Hindukusch, sondern auch die der Menschen, die dort leben.“