Gabriele Martis, geborene Schoch, feiert am Sonntag den 95. Geburtstag

Schwäbisch Gmünd

Rems-Zeitung

Gabriele Martis geborene Schoch feiert am Sonntag, 22. Juli, in St. Anna den 95. Geburtstag. Gemeinsam mit Käthe Czisch hat sie die „Nothilfe“ gegründet, die nach 1945 den Flüchtlingen ihren Neubeginn in Gmünd erträglich machte. Sie war Gemeinderätin, und auch als Pionierin der Sozialarbeit hat sie sich jahrzehntelang für andere eingesetzt.

Samstag, 21. Juli 2012
Rems-Zeitung, Redaktion
172 Sekunden Lesedauer

Von Birgit Trinkle

SCHWÄBISCH GMÜND. Das Mädchen Gabriele Schoch hat das damalige Hindenburg-​Gymnasium besucht und in Gmünd die Weimarer Republik sowie die Anfänge des Nazi-​Regimes erlebt. Nach dem Abitur 1936 ließ sie sich in Säuglings-​, Kranken– und Wochenbettpflege unterrichten, wurde zur Fürsorgerin ausgebildet, beschloss 1940 ihr Studium an der Sozialen Fachschule in München mit sehr gutem Ergebnis und arbeitete beim Sozial– und Jugendamt in Stuttgart. Was sie sich in dieser Zeit an Wissen und Erfahrung aneignen konnte, sollte ihr und der Stadt später zugute kommen.
Im Oktober 1941 heiratete sie ihren Verlobten und ehemaligen Mitschüler Wilhelm Martis. Als sie ihn in den Krieg verabschiedete, war sie schwanger; ihr Sohn Karl-​Wilhelm wurde im November 1942 geboren. Er hat seinen Vater, der in Russland geblieben ist, nie gesehen – Wilhelm Martis hatte den Urlaubsschein bereits in der Tasche, als seine Einheit eingekesselt wurde; von der Geburt seines Jungen in Gmünd hat er über eine Soldatensendung des Reichfunks erfahren. Seine „Vermisstmeldung“ wurde der jungen Mutter vom Schwiegervater überbracht.
Bereits seit den 30er-​Jahren war Gabriele Martis mit Franz und Käthe Czisch befreundet. Ab Oktober 1945 hätte sie eigentlich an der Klösterleschule die 5. Jungenklasse übernehmen sollen. Doch dazu kam es nicht. Bis heute unvergessen ist der Tag, an dem sie Käthe Czisch in der Münstergasse traf. Deren Mann war damals Flüchtlingskommissar, und so wusste sie, dass Gmünd als unzerstörte Stadt viele, sehr viele Neubürger würde aufnehmen müssen, dass das Ganze in eine Katastrophe zu münden drohte: „Du kannst jetzt nicht einfach so ins bürgerliche Leben zurückkehren. Die haben gar nichts mehr.“ Und so haben sich die beiden Frauen – Käthe Czisch, trotz ihrer Dreifachbelastung ehrenamtlich, und Gabriele Schoch als ausgebildete Sozialarbeiterin – fortan um den Aufbau ihrer Hilfsorganisation gekümmert. Sie standen vor einer nie dagewesenen Situation: Jeweils über tausend Menschen kamen am Sonntag am Bahnhof an und mussten untergebracht werden. Nur wo? Wie sollte man sie kleiden, wie ernähren? Allein die Erstversorgung mit – passenden – Kleidern ist eine Geschichte, die vielfach erzählt wurde, ebenso der Eintausch gespendeter Bidlingmaier-​Uhren gegen die schuhkartongroßen, mit Briketts geheizten Sparherde, die so vielen Familien als Heizung und Kochstelle dienten, oder gegen Papiersäcke, die dann von Bauern mit Stroh gefüllt wurden. Kartoffeln holten die zwei Frauen mit ihrem alten Laster in einer abenteuerlichen Hamsterfahrt. Die Geschichte der Gmünder Nothilfe, also die Geschichte dieser zwei Frauen, die ihrer Stadt und all ihren Bürgern ein tragfähiges soziales Netz knüpften, wurde als beispielhaft in baden-​württembergische Schulbücher aufgenommen.
Über ihre Tante, ebenfalls eine Pionierin, hat Gabriele Martis die Entwicklung der karitativen Arbeit im Land von den ersten Jahren der Weimarer Republik an nachvollzogen. Sie selbst hatte sich einen hervorragenden Ruf erarbeitet. nach dem Krieg wurde ihr eine Abteilungsleiterstelle in Stuttgart angetragen – doch eine alleinerziehende Mutter stand damals noch vor ganz anderen Problemen als heute. Zudem gab es massive Vorbehalte gegen Frauen, die ohne Familienvermögen im Hintergrund Karriere machten: Als Gabriele Martis vom Kreisrat zur Sozialamtschefin gewählt wurde, verhinderte dies – ganz ungeachtet ihrer Ausbildung – ein Hinweis missgünstiger männlicher Kollegen auf die Unvereinbarkeit dieser Position mit ihrer Laufbahn; auch nach jahrelanger Tätigkeit als stellvertretende Amtsleiterin wurde sie nicht mal ansatzweise angemessen entlohnt.
Ihre fachliche Qualifikation freilich wurde nie in Frage gestellt; ausdrücklich baten die Amerikaner 1952 darum, sie zum Mitglied der Gmünder „townleader“-Gruppe zu machen, die ein Vierteljahr lang in den USA Demokratie lernen sollte. In dieser Zeit begründete sie so viele Freundschaften, dass sie mit ihren US-​amerikanischen Gästen bei der 800-​Jahr-​Feier unübersehbar war und noch nach Jahrzehnten Kontakt hielt.
Nicht zuletzt war die Jubilarin, die ihren Lebensabend in St. Anna verbringt, von 1956 bis 1965 Gmünder Stadträtin, als dies noch ganz und gar unüblich war. Wenn St. Anna am morgigen Sonntag fürs Sommerfest geschmückt Gäste empfängt, werden sich wohl nicht wenige einfinden, die Gabriele Martis zum Geburtstag gratulieren – unter anderem hat Bürgermeister Bläse sein Kommen angesagt