„Täglich 15 bis 30 Minuten Körperkultur“: Hermann Bauknechts Trainingsplan

Schwäbisch Gmünd

Rems-Zeitung

In Reiner Wielands SchriftgutarchivOstwürttemberg findet sich immer etwas. Etwa das Büchlein einesGmünders, der vor 165 Jahren geboren wurde und sich im Alter von 63 Jahren berufen fühlte, seine Zeitgenossen zu Gesundheit und Sauberkeit, vor allem zu seiner „Körperkultur“, zu bekehren.

Dienstag, 24. August 2010
Rems-Zeitung, Redaktion
192 Sekunden Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND (bt). „In einem Jahr zum Marathon“, „Power-​Pilates für Einsteiger“, „Fit durch Yoga“: In den Buchhandlungen finden sich unterschiedlichste Ratgeber; ihre Zahl ist Legion. Was Hermann Bauknecht in Buchform brachte — seine mit detaillierten Anleitungen zur Körperpflege verbundenen „Übungen eines 63-​jährigen Turners“ — sind im Prinzip nach demselben Muster gestrickt und könnten getrost vergessen werden, wären sie nicht längst ein Sittengemälde, ein Blick in eine Welt, die es so nicht mehr gibt. Und eine Lebensgeschichte.
In dieser aufgeklärten Zeit, so schrieb Hermann Bauknecht 1908, „sollte man annehmen dürfen, dass die Erkenntnis des hygienischen Werts der Körperausbildung in allen Kreisen der Bevölkerung feste Wurzel gefasst habe“. Allein, wie traurig sei es, die Menschen zu betrachten: „Mitleidig schlägt der Erfahrene und Prüfende das Auge nieder und trauert über die vernachlässigte Körperkultur.“ Was die Menschheit tatsächlich erreicht habe, gehe unter im „Rennen und Jagen nach dem ersehnten, vermeintlichen Glück, nach Geld, Genuss, Titel und Rang“ und verkenne den Hauptwert im menschlichen Leben: „Die Gesundheit, die Erziehung hierzu und die Erhaltung derselben.“ Wer seine mangelnde Körperpflege immer mit Zeitmangel entschuldigt habe, so Bauknechts Botschaft, müsse Dank seines Buches und seiner „wohltätigen Übungsmethode“ nur noch 15 bis 30 Minuten täglich aufbringen.
Erinnerungen an den
schwäbischen Turnvater
Hermann Bauknecht hat seine ersten Übungen als Dreijähriger an der offenen Brotschublade absolviert; das Herumturnen auf dem Knie des Großvaters zählt zu seinen ersten Erinnerungen. Und so ging’s weiter, ein ganzes Sportlerleben lang. Die fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren nicht leicht für die Gmünder. Auch Bauknechts Vater, ein Wagnermeister, hatte kaum Einnahmen und die Familie musste sich schon damals ziemlich nach der Decke strecken. Als Hermann acht Jahre alt war, kam es zu einer Begegnung, die sein ganzes Leben bestimmen sollte: Johannes Buhl überzeugte damals die Gmünder von der „Notwendigkeit gymnastischen Jugenderziehung“; und der Bub war unter denen, die „in glühendem Eifer“ den Turnunterricht besuchten. 1857 starb Vater Bauknecht. Mit Hilfe des Münsterpfarrers Wagner kam die Witwe mit ihren fünf Kindern irgendwie zurecht. Mehr noch, Wagner sorgte dafür, dass Hermann in der Kinderrettungsanstalt Tempelhof „sittlich streng und religiös erzogen“ wurde; was ihm Freude machte, so erinnert er sich, waren vor allem die aus den Gmünder Turnstunden so geschätzten Geräte auf dem Hof und die Möglichkeit, nach Kräften zu üben.
Nach der Konfirmation kehrte er nach Gmünd zurück und trat als Graveurlehrling in die Firma E. Forster ein. Wie gerne hätte er damals die Zöglingsturnstunden besucht, aber erst als sich im zweiten Lehrjahr der Wochenlohn etwas erhöhte, wurde er glücklicher „Turnzögling“ und konnte sich als solcher 1862 bei seinem allerersten Landesturnfest in Ulm bewähren. Bereits damals hat „der schwäbische Turnvater“ Buhl erkannt, mit welch glühender Begeisterung der junge Bauknecht seine Ideale übernahm. Als er 19 Jahre alt war, ernannte Buhl ihn zum Zöglingsturnwart. Als ältester Sohn einer Witwe war er in Friedenszeiten vom Militärdienst befreit, aber 1866, im Österreichischen Krieg wurde er einberufen. Sein Dienst als Soldat I. Klasse — auch die Beförderung führte er auf die Tüchtigkeit des Turners zurück — war schnell beendet.
In den Jahren, die folgten, sicherte er sich auf den Turnfesten des Landes einen ersten Preis nach dem anderen — an den Geräten wie im Laufen, Springen, Stemmen, Ringen, Fechten, Wandern etc. bis hin zum „Radfahren auf den hölzernen Fahrrädern und dann auf dem Stahlroß, alles dies habe ich mit Jugendmut und Jugendfreude getrieben“. Dieses Leben erfüllte ihn so sehr, dass er sich zum Sportlehrer ausbilden ließ — was damals nur Dank einflussreicher Fürsprecher möglich war. Und erst 23 Jahre später erhielt er die ersehnte „definitive Anstellung“.
Als Hermann Bauknecht sein Buch schrieb, erinnerte er sich an die schönste Zeit seines Lebens, erzählte Anekdoten von Sternstunden, die ihn stolz machten und von denen er wohl auch zehrte. So strauchelte er einst während eines Gewitters beim „Freihochsprung“, passierte das Hindernis unterm Seil und knallte auf die Matte — woraufhin der Vorsitzende der Deutschen Turnerschaft erklärte, wenn gar der Bauknecht falle, müsse man das Wettturnen abbrechen.
So viele Ehrenämter hat er übernommen, etwa als Gauvorstand und Gauturnwart, er überarbeitete Wettturnordnungen, war Kampfrichter, wurde Ehrenmitglied des deutschen Turnkreises und versprach, zeitlebens „treu zur deutschen Turnsache“ zu halten. Wer sein Buch liest, die detaillierten gymnastischen Anweisungen, die Tipps zur Körperpflege, vor allem aber sein Schwärmen von lange vergangenen Jahren, kommt freilich nicht umhin festzustellen, dass dieser Mann wohl ziemlich einsam und die Vergangenheit die eigentliche Heimat seiner Seele war — wie’s ein anderer Mann dieses Jahrhunderts, Heinrich Heine, formuliert hat.