RZ-​Serie (4) zur psychoonkologischen Begleitung Krebskranker: Was Barbara Vratil für einen Angehörigen tun konnte

Ostalb

Rems-Zeitung

Zwei Jahre lang hat ein Leinzeller seine sterbende Frau begleitet. Ohne die Hilfe des Stauferklinikums und ohne Psychologin Barbara Vratil wäre es den Eheleuten wohl nicht möglich gewesen, in dieser Zeit unglaublich intensive Zweisamkeit zu erfahren.Von Birgit Trinkle

Donnerstag, 25. November 2010
Rems-Zeitung, Redaktion
307 Sekunden Lesedauer

MUTLANGEN /​LEINZELL. Richard Herbst hat kein Problem damit, seine Geschichte zu erzählen, im Gegenteil: Barbara Vratil und die Krebsberatungsstelle haben ihm so viel gegeben, sagt er, dass er sich freut, etwas für sie tun zu können.
Richard und Christa Herbst haben vor über 40 Jahren geheiratet. Sie dachten, es würde ein Leben lang halten. Das hat es ja auch — nur dass Christa Herbst den verdienten Ruhestand nicht erleben durfte. Beider Eltern waren früh gestorben; dass sie selbst dieses Schicksal treffen könnte, hätten sie nicht gedacht. 2004 stürzte Christa Herbst bei einer der Radtouren, mit denen sich das Paar fit hielt, so unglücklich auf die Schulter, dass mehrere Operationen und intensive Schmerztherapie notwendig wurden — die Eheleute dachten, schlimmer könne es eigentlich nicht mehr werden. Aber das war erst der Anfang. 2008, als ihre anhaltenden Schluckbeschwerden gar nicht besser wurden und die Theorie von der verschleppten Erkältung allmählich nicht mehr überzeugte, suchte die Leinzellerin einen HNO-​Spezialisten auf. An diesem Morgen rief sie ihren Mann aus der Praxis an, weinend: „Die haben etwas gefunden, das nicht gut aussieht.“ Bei der Kernspintomografie im Marienhospital, zeigte sich, dass auch im Brustbereich etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Gewebeproben von Zungengrund und Lunge ließen dann keinen Zweifel: Gleich zwei bösartige Krebsarten waren zu bekämpfen und eine Operation in beiden Fällen nicht möglich. Ein vernichtendes Urteil. Dass eine Welt zusammenbrechen kann, hatten sie immer nur gehört.
Zunächst wurde mit rund 80 Bestrahlungen das Geschwür am Zungengrund angegangen — und dabei der Hals derart verbrannt, dass die so lebensfrohe Frau keinen Geschmack mehr hatte, keinen Speichel produzieren konnte — und das am Gaumen klebende Essen zur Qual wurde. Sie nahm ab, immer mehr.
Die Familie kämpfte hart darum, optimistisch in die Zukunft zu gehen, sich gegenseitig Mut zu machen, auch wenn das Wissen, das sie sich aneigneten, sie schier verzweifeln ließ: Das kleinzellige Bronchialkarzinom ist ein aggressiver Tumor, nur sehr, sehr selten heilbar, aber vielleicht, einige Zeit zumindest, aufzuhalten. Zunächst lief ja auch alles wunderbar. Das Ding in ihrem Hals war schließlich weg, und nach einem halben Jahr und sechs Zyklen der Chemotherapie war auch der Lungenkrebs kleiner geworden. Richard Herbst erzählt von Freudentränen. In Aulendorf im Schwarzwald erholte sich seine Frau, und das hat ihr gut getan. Sie war damals so zuversichtlich, konnte sogar ein bisschen im Haushalt arbeiten. Damals war zum letzten Mal alles in Ordnung.
Das Karzinom wurde größer,
der Körper seiner Frau schwächer
Nach einem weiteren halben Jahr war der Krebs wieder größer geworden; in der Niere fand sich eine Metastase, die ebenfalls wuchs. Nicht nur der Ehemann, auch Sohn und Pflegetochter setzten alle Hebel in Bewegung, um ihr zu helfen: Vieles wurde versucht, Misteltherapie etwa und anderes mehr, das die Natur an Gutem bereithält. Für eine weitere extreme Chemotherapie war Christa Herbst damals schon zu schwach; Tabletten anstelle der Spritzen aber konnten nichts ausrichten gegen das Wachstum des Tumors. Die Schmerzen wurden schlimmer, das Erbrechen, plötzliches heftiges Nasenbluten. Die Nadeln in ihrem Arm entzündeten sich, und so ließ sich die Kranke im November 2009 einen Port in die Herzkammer legen, einen dauerhaften Zugang zum Blutkreislauf. Sie lebte damals bereits von Astronautennnahrung.
Irgendwann im Winter beschlossen die Eheleute, künftig nicht mehr auf Stuttgart, sondern auf das Stauferklinikum zu setzen — und das war das einzig Richtige. Er konnte die Liebste jetzt Tag und Nacht besuchen, vor allem aber fühlte sie sich wohl in Mutlangen. Eine Freundin, Kinderkrankenschwester am Stauferklinikum, erzählte von der noch jungen Krebsberatungsstelle, und auch das war ein Glücksfall, ebenso wie die vier Damen der Brückenpflege, die bald buchstäblich rund um die Uhr mit Freundlichkeit und Effizienz für die Familie da waren.
Der 65-​jährige gelernte Mechaniker hat gute Freunde, verlässliche Familie — aber über private Dinge von diesem Ausmaß zu reden, andere zu belasten mit seinem Kummer, fiel ihm schwer. Dann kam Barbara Vratil. Wie so viele, die der RZ von ihr erzählten, konnte auch er nicht fassen, wie schnell sie ihm vertraut war, wie sehr er sich ihr öffnete: „Als würden wir uns ewig kennen“. Sie hat mit ihm über den Tod gesprochen, als er wusste, aber nicht begreifen konnte, dass ihm seine Frau unter den Händen wegstarb.
Aus der ersten Liebe wurde eine lebenslange Verbindung
Als die beiden sich ineinander verliebten, war sie knapp 14 Jahre alt; er freundete sich damals mit ihrem Bruder an, spielte mit ihm Tischtennis, nur um sie treffen zu können. Es war die erste Liebe und die große Liebe, die über alle Höhen und Tiefen trägt. Er nannte sie Mausezahn, und das „Mausezahn“-Herz, ein Familienfoto und die alberne kleine Puppe mit dem „Du fehlst mir“-Aufdruck, die er ihr mal geschenkt hat, waren in den letzten Monaten ihre ständigen Begleiter. So wie die ganze Familie. Auf der Palliativstation, die den Sterbenden vorbehalten ist, gibt es nicht wenige, um die sich niemand kümmert: Christa Herbst zählte nicht einen Tag zu ihnen, und sie wusste um dieses Glück. Manchmal fand sie es schwer zu ertragen, „welche Komöde, welche Sorgen“ sie ihrer Familie bereitete, aber ihr Mann sagt, diese letzte Zeit sei die intensivsten ihrer Ehe gewesen.
Er hat sie gewaschen und eingecremt, hat ihr Sauerstoff gegeben und Morphium gespritzt, den Port gereinigt und gewartet („ich hätte nie gedacht, dass ich das schaffe“). Aber er wusste auch, dass er jederzeit Hilfe haben konnte. Und das ließ ihn bestehen. Ärzte und Pflegepersonal, die Brückenhilfe waren da, und Barbara Vratil, die sogar Hausbesuche machte um Trost zu spenden und über den Tod zu sprechen, der zum Leben gehört.
Richard Herbst weiß nicht, wie er ihnen allen danken kann: „Mutlangen ist phänomenal, nicht nur für Patienten, auch für Angehörige.“ Der letzte Wunsch, Oma zu werden, blieb seiner Frau versagt. Aber am 25. April diesen Jahres — da lebte sie bereits fast ein Jahr länger, als bei dieser Erkrankung zu erwarten — hatte sie einen so guten Tag, dass all ihre Freunde mit ihr den 60. Geburtstag feiern konnten; niemand scherte sich um das Sauerstoffgerät, das ihr das Atmen ermöglichte. Es war der letzte gute Tag.
Der Krebs hat ihr die Lungen zugewuchert, und als sie nach Stuttgart gebracht wurde, damit man ihr dort einen Stent legen konnte, sagten ihm die Ärzte, dass es vorbei war: Nichts und niemand konnte ihr mehr helfen. Ihr fehlte die Luft zum Leben. Er hätte sie gerne in Mutlangen gehabt; das überarbeitete Team in Stuttgart, sagt er, habe sich kaum um sie kümmern können. Als es aber an die letzten Stunden ging, war es doch noch möglich, sie in ein schönes Zimmer zu legen, ihr anzuziehen, was sie am liebsten trug, ihr den Schmerz zu nehmen. Da saß er dann und hatte sie ganz fest im Arm, bis sie endgültig aufhörte zu atmen.
Er ist froh und dankbar, dass er sie so lange an seiner Seite hatte. Er wird nie vergessen, daran lässt er keinen Zweifel, was das Stauferklinikum und insbesondere Barbara Vratil für ihn getan haben.

Wer Interesse an kostenloser psychologischer Hilfe hat oder durch eine Mitgliedschaft im Förderverein dazu beitragen will, dass diese ausschließlich über Spenden finanzierte Arbeit auch in Zukunft geleistet werden kann, kann sich bei Marita Ellwanger melden, Tel. 0 71 71/​49 50 230, Montag bis Freitag von 8.30 bis 12.30 Uhr