Friedensbewegung hielt 30 Jahre nach der Pershing-​Stationierung Rück– und Ausblick

Ostalb

Rems-Zeitung

Sie sind sich einig, die älter gewordenen Kämpen: Es war gut und es war richtig; was sie 1983 am Pershingdepot in Mutlangen angefangen haben, hat ein Stück weit die Welt verändert. Aber nicht nur Vergangenem gilt der Blick, auch künftigen Herausforderungen. Streitbar sind sie nämlich noch immer

Freitag, 22. November 2013
Rems-Zeitung, Redaktion
208 Sekunden Lesedauer

Von Birgit Trinkle

MUTLANGEN. Es ist ein Klassentreffen der etwas anderen Art: Nicht den Schulabschluss haben sie gemeinsam, sondern den Transport der Pershing-​II-​Raketen auf die Mutlanger Heide vor genau 30 Jahren und ihren Protest, der untrennbar damit verbunden war. Sieben Jahre kämpften die Friedensaktivisten; knapp 3000 Blockierer wurden festgenommen und verurteilt. Einige der Prominenten von damals und einige der Unentwegten, die das Ganze bis zum Abzug der Atomraketen mit dem INF-​Vertrag und darüber hinaus begleitet haben, sind dieser Tage zu Gast in der Pressehütte – einst von Demonstranten umgebaute Scheuer, die heute international arbeitende „Friedenswerkstatt“ ist. Hier wird wie damals erzählt, gelacht, und auch gestritten. Sabine Behrendt sah vor vielen Jahren ein Plakat, das die Schrecken der Hochrüstung verdeutlichte. In diesem im Rückblick entscheidenden Moment, erinnerte sie sich, dass ihre Mutter immer gesagt hatte, die große Schuld aller sei es gewesen, zu schweigen, als Joseph Goebbels der Welt verkündete, die Reichspogromnacht, all die brennenden Synagogen, seien vom zornigen deutschen Volk gewollt und verursacht. „Damals hätten wir protestieren müssen“: Vor allem diesen Satz der Mutter hatte Behrendt im Ohr, als sie den Krefelder Appell gegen Atomraketen auf deutschem Boden unterzeichnete („das war ein mutiger Akt für eine bürgerlich erzogene Frau“). 60 Jahre alt war sie, als sie sich in Mutlangen auf die Straße setzte; daraus ist ihr Buch entstanden „Guck mal, Oma demonstriert“. Die 88-​Jährige war bei der Seniorenblockade dabei, auch bei der Musikblockade – sie sang im Chor damals, Bach, vor dem Hintergrund der Raketen; wer es erleben durfte, hat’s nie vergessen. Autorin Barbara Rütting, die am Donnerstag mit den alten Mutlanger Weggefährten den 86. Geburtstag feierte, hatte ihr Sitzkissen von damals mitgebracht und ihr von einer Maus angenagtes lila Halstuch aus Mutlanger Tagen. Sie erinnerte daran, dass vor 30 Jahren, als die Stationierung beschlossen wurde, ein Riss durch die Gesellschaft ging: „Dass am Ende des Kalten Krieges Mauern fielen und keine Bomben, ist zu einem nicht geringen Teil Verdienst der Menschen, die damals auf die Straße gingen.“ Kommunistenschweine seien diese oft genug genannt worden, arbeitsscheues Gesindel; heute sei eine atomwaffenfreie Welt auch Ziel des US-​Präsidenten. Dennoch gebe es in Deutschland noch immer Atombomben, die nun auch noch modernisiert werden sollten. Sie formulierte einen Appell an die Abgeordneten, einen Antrag zu stellen – unter anderem in der NATO für den Abzug der Atomwaffen einzutreten und auf internationaler Ebene aktiv für das Verbot und die Vernichtung aller Atomwaffen einzutreten. Sie selbst werde nicht aufhören, sich einzusetzen: „So lange ich schnaufen kann, mach ich weiter.“ Lotte Rodi, seit gestern 82 Jahre alt, verlas einen Brief von Inge Jens, die einst ebenfalls mit ihrem Mann, dem verstorbenen Tübinger Philologen und Publizisten Walter Jens, in Mutlangen festgenommen wurde. Jens ist mitten im Umzug, der Ischiasnerv schmerzt, aber sie ließ die Versammlung, wissen, was sie bewegt. Ihr Widerstand damals sei aus Kriegserfahrungen heraus entstanden und dem festen Wille, diesen Schrecken von den Kindern fernzuhalten. Ihr Anliegen heute: Eine solche Veranstaltung dürfe nicht zur nostalgischen Erinnerung verkommen. „Die Basis muss aufmüpfig werden“ – auch dieser Ansatz in die Gegenwart. Das Gelände des ehemaligen Atomwaffenlagers ist heute Neubaugebiet – auch deshalb war Bürgermeister Peter Seyfried gestern zu Gast auf dem Podium. Er sprach von frühen Vorbehalten der Bevölkerung, vom allmählichen Umdenken. Heute ist Seyfried selbst Mitglied der „mayors for peace“, Bürgermeister für den Frieden. Der Stuttgarter Friedens– und Konfliktforscher Wolfgang Sternstein war damals junger Politologe mit brennendem Herzen; gestern zeigte er sich nach wie vor überzeugt vom „engen Zusammenhang zwischen der zivilen und militärischen Atomkraftnutzung“. Volker Nick, einer von denen, die sich immer treu geblieben sind, meinte an der sich später entzündenden Diskussion über die noch in Büchel in der Eifel stationierten Atomwaffen, das eigentliche Problem sei, dass sich Deutschland durch diese wenigen noch verbliebenen Raketen unglaubwürdig mache im internationalen Prozess: „Keiner nimmt uns unsere vollmundigen Erklärungen zur atomwaffenfreien Welt ab.“ Bundestagsabgeordnete Dr. Ute Finckh-​Krämer – sie wurde einst als Studentin im „Vorprogramm“ zum medienwirksamen Prozess gegen das Ehepaar Jens verurteilt – sprach von Faktoren, die notwendig sind, eine Abrüstungsspirale in Gang zu setzen. Von manchmal notwendigem politischem Taktieren. Vom Konsensprinzip der NATO, mit dem der Widerstand des Baltikums und Rumäniens einen Abzug der Büchel-​Raketen verhinderten. Auch von Rückschlag war die Rede, vom wiederentdeckten „Gleichgewicht des Schreckens“. Die zu diesem Zeitpunkt noch abgeklärte Debatte zur Politikverdrossenheit, die für die etablierte Parteien zunehmend zur Gefahr werde, geriet zum ideologischen Minenfeld, als Werner Jany, der damals als Journalist dabei war, den Auslandseinsatz von Soldaten und all die Waffenexporte zum Thema machte und meinte, in seinen Augen sei die Situation deutlich bedrohlicher als 1983. Da lagen dann Welten zwischen der Bundestagsabgeordneten und die sich auf ihre Erfahrungen als Landtagsabgeordnete in Bayern berufende Barbara Rütting, die Politiker unter anderem allesamt Marionetten der Industrie nannte.