Finger weg von kleinen Rehen: Warum der Alfdorfer Jagdpächter unter großen Mühen zwei verwaiste Kitze aufzieht

Ostalb

Rems-Zeitung

Sie sehen Rehe aus der Nähe – ein Vergnügen, das nur wenigen vergönnt ist und mit durchwachten Nächten bezahlt wird. Alle paar Stunden sorgen mit warmer Ziegenmilch gefüllte Fläschle dafür, dass die beiden Kitze der Wiedmanns in Hintersteinenberg große, gesunde Tieren werden.

Sonntag, 29. September 2013
Rems-Zeitung, Redaktion
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ALDORF (bt). Der Marder sitzt vor der Haustür, sagt die Frau am Telefon. Er hat eine offene Brustwunde, auf der sich bereits die Fliegen tummeln. Und er hat ganz sicher große Schmerzen. Sagt die Frau. Und dass doch bitte jemand kommen soll, sofort, und das Tier erlösen. Denis Wiedmann wollte eigentlich über seine Reh-​Findlinge reden.
Er seufzt und grinst ein bisschen schief. „Das sind wir, die schießwütigen Jäger, die zum Vergnügen Tiere abknallen“ – bezieht er sich auf vielfach an Jägern geäußerte Kritik. Dass die Realität so ganz anders aussieht, weiß auch seine Frau Stefanie, die oft genug miterlebt, dass nachts die Polizei anruft, weil die unschönen Folgen eines Wildunfalls zu beseitigen sind. So wie damals in dieser Juli-​Nacht. Die Rehgeiß, die zwischen Alfdorf und Bruck vor ein Auto gelaufen war, war tot. In dieser Zeit des Jahres haben alle gesunden Geißen Nachwuchs; auch sprach das Gesäuge eine deutliche Sprache. Doch Denis Wiedmann schaute sich zunächst nur flüchtig um, hatte es nicht eilig mit der Suche: So spät im Juli sind die Kitze in aller Regel neun, zehn Wochen alt und lassen sich nie und nimmer einfangen. Dann aber kam eineinhalb Tage später ein Anruf — an der Stelle an der Mama Reh verunglückt war, liefen Kitze wie auf dem Präsentierteller schreiend übers abgemähte Feld, am helllichten Tag. Grundsätzlich gilt: Finger weg von den Kitzen. Die Rehgeiß legt ihren Nachwuchs in Wiese oder Wald ab und kommt alle paar Stunden zum Säugen vorbei — riechen die Kleinen dann aber nach Mensch, gibt’s ein Problem. Im Zweifelsfall also immer Jäger oder Jägerin anrufen.
In diesem Fall war schnell klar, dass der Nachwuchs der getöteten Geiß, sehr viel jünger als angenommen und schon sichtlich geschwächt, unweigerlich sterben würde. Als pflichtbewusster Jäger, so Wiedmann, sei ihm sofort klar gewesen, dass er diese Kitze nicht der „Natur“ überlassen konnte.; überhaupt sei es ein Wunder zu nennen, dass der Fuchs sie noch nicht geholt hatte. Ob sie sich einfangen ließen? Letztendlich half eine Autofahrerin, die angehalten hatte, die Tiere, die sich im Brennnesselgestrüpp eines Grabens zu verstecken suchten, aufzulesen und in Wiedmanns Kofferraum zu legen. Stefanie Wiedmann, Lehrerin, war damals gerade auf dem Weg zur Zeugniskonferenz als ihr Mann sie anrief und auf die Ankunft der beiden Sorgenrehe vorbereitete. Dass das neu gebaut Gartenhäuschen als Rehstall herhalten musste, stand schnell fest. Was sich die Familie damit aber eingehandelt hatte, wurde erst deutlich, als einschlägige Literatur gewälzt und mit dem Tierarzt gesprochen wurde – kleine Rehe aufzuziehen, hört sich sehr viel einfacher an, als es ist.
In den ersten Wochen gibt es nur Ziegen– oder Schafsmilch; Kuhmilch führt zu Magenverstimmungen und Durchfall. Die Milch muss 39 Grad warm sein und alle drei, maximal vier Stunden verabreicht werden – das heißt tatsächlich, dass nachts um drei Uhr ein Wecker klingelt. Diese Fütterung übernahm Denis Wiedmann selbst; seiner Frau ist die Zeit der Kleinstkinderphase noch allzu deutlich in Erinnerung. Überhaupt die Kleinsten in der Familie: Lina und Robin waren natürlich begeistert, tauften den Familienzuwachs Max und Anna und wünschten nichts mehr, als an der Betreuung beteiligt zu werden. Allein, dass es einen elementaren Unterschied zwischen Wild– und Haustieren gibt, wurde schnell deutlich. Schafe und Ziegen etwa stellen sich ganz anders an. Die Eltern Wiedmann lernten, zur Rehfütterung möglichst die gleiche Kleidung zu tragen und nicht anders zu riechen. Den Kindern wurde ganz, ganz behutsam und in engen Grenzen Nähe ermöglicht. Nicht nur die Angst und der allgegenwärtige und gesundheitsgefährdende Stress waren zu bedenken – bis heute schreckt jede Autotür, jede Hupe, jedes hörbare Gespräch die Tiere auf; so schlecht sie sehen, das Gehör der Rehe ist erstklassig –, sondern auch die für eine Kinderstube so typischen Wehwehchen: Fencheltee etwa gab’s bei Blähungen. Ansonsten gibt’s mittlerweile auch einen leckeren Mix aus Blättern, Gräsern und Haferflocken. Noch immer wird Ziegenmilch gereicht, eineinhalb bis zwei Liter täglich für die beiden Racker, bis demnächst endgültig auf feste Nahrung umgestellt werden kann. Denis Wiedmann überschlägt die Kosten im Kopf und kommt auf rund 300 Euro: Bei der Freude, die allein die Kinder an den Beiden haben, aber auch mit Blick auf Tier– und Naturschutz, die den Jägern durchaus wichtig, seien diese Kosten kein Thema.
Noch sind Anna und Max in Gartenhaus und Garten untergebracht. Und dann? In ihnen potentielles Wildfleisch zu sehen, ist undenkbar, sagt Wiedmann und lacht – vor allem mit Blick auf seine Kinder, die in Max und Anna längst Famillienanhang sehen. Schwer genug, das mit den Hühnern auf die Reihe zu kriegen. Als Haustiere eignen sich Rehe sicher nicht, aber durch die Handaufzucht haben sie ihre natürliche Scheu gegenüber Mensch und Hund verloren; eine Wiederauswilderung kommt nicht in Frage, vor allem weil Max nach der Geschlechtsreife aggressiv werden könnte — weniger angenehm für Spaziergänger. Im Frühjahr werden die beiden dann im drei Hektar großem Damwildgehege der Familie untergebracht.
Früher kam es öfter vor, dass verletzte Kitze zu pflegen waren — mähte ein zehn Stundenkilometer langsamer Traktor, konnte der Landwirt meistens noch rechtzeitig anhalten. Ist er in der dreifachen Geschwindigkeit unterwegs, mit Front– und Seitenmähwerken, die ihn eine Achtmeterschneise schlagen lassen, gibt so ein Rehkitz gerade mal ein kleines Geräusch, so als wäre ein Kieselstein ins Getriebe geraten. Da bleibt nix übrig, das gepflegt werden kann. Deshalb freuen sich Jagdpächter wie Denis Wiedmann ja auch, wenn sie informiert werden, bevor etwa eine Wiese am Waldrand abgemäht wird — allein wenn sie am Vorabend mit Hunden diese Wiese abgehen, ist das für Mama Reh meist Grund genug, ihre Jungen in Sicherheit zu bringen. Ansonsten gilt freilich wie gesagt: Finger weg von kleinen Rehen.