Helmuth Rilling und die Gächinger Kantorei führten im Schönblick-Forum das Weihnachtsoratorium von J. S. Bach auf
Das voll besetzte Schönblick-Forum war in allen Belangen der ideale Ort für die Aufführung von Bachs „Weihnachtsoratorium“. Helmuth Rilling musizierte dort wieder einmal mit seiner Gächinger Kantorei, dem Bach-Collegium Stuttgart und ausgezeichneten Solisten.
Dienstag, 01. Dezember 2009
Rems-Zeitung, Redaktion
3 Minuten Lesedauer
Rilling, der unangefochtene Nestor unter den Bach-Interpreten, drückt denn auch seiner Deutung aller sechs Kantaten dieses grandiosen, festlichen bis schlichten Kosmos seinen ganz persönlichen gläubigen Stempel auf. Wahrscheinlich kann er gar nicht mehr zählen, wie oft er das Werk schon dirigiert hat. Und dabei bleibt alles durchwirkt vom Willen, sich ganz in den Dienst dieser Verkündigung zu stellen: alles — wie gewohnt — auswendig dirigierend. Diesem Ereignis kann (und will) man sich nicht entziehen.
Rillings Musizieren ist Botschaft,
in deren Dienst er sich weiß
Allen voran setzen differenzierte Pauken und Trompeten Der Gächinger markante Punkte, Streicher und Holzbläser strukturieren minutiös — jede Phrase sitzt. Rilling hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass wir mit heutigen Ohr-Erfahrungen leben (das gilt dann aber auch für dezente Textkorrekturen!), sodass es keiner historischen Instrumente bedarf: Musizieren auf der Höhe der Zeit ist kein fossil-museales Unterfangen. Gerade deshalb klingt alles so frisch, strahlend, vermag aber dennoch auch den zartesten Regungen Ausdruck zu verleihen. Rillings Musizieren ist Botschaft, in deren Dienst er sich weiß. Dennoch erliegt er zuweilen der Gefahr des Mainstreams hinsichtlich sportlich-rasanter Tempi. Das signifikanteste Beispiel war das Duett Sopran/Bass: „Herr, dein Mitleid, dein Erbarmen“: Wie kann Heinrich Schütz“ zu Recht reklamiertem musikalischen Credo nach der „adæquatio textus“, also dem Primat des Textes als zwingende Voraussetzung musikalischer Deutung, Genüge getan werden, wenn weder das Mitleid noch das Erbarmen vermittelt werden? Dafür erfuhr das Duett eine deshalb peinliche Koketterie, die der hochbegabten Sibylla Rubens als Notbehelf keine andere Wahl ließ. Der Bassist Georg Zeppenfeld behauptete sich ästhetisch leichter, weil er — Meister des Legato — auch in den Koloraturen entsprechend bestach. Das dramatische Gesamtkunstwerk Rillings nahm zum Glück nur marginal Schaden; dennoch fehlte so der i-Punkt der Vollkommenheit.
Das gilt auch für die Kleinodien des „WO“, die Choräle. Jeder überzeugende Gedicht-Rezitator beugt sich dem Sinnzusammenhang des Satzbaus. Das ist kein Freiheitsverlust, sondern gekonnter Gipfelsturm balladesker oder lyrischer Höhen. Rilling geht die Choräle nicht stringent an. Da gibt es wahre Glanzpunkte, z. B. „Zwar ist solche Herzensstube“, dann aber auch das Gegenteil: Zeile für Zeile, willkürlich einer rein instrumentalen (Fehl-)Deutung geschuldet, dabei ist doch die Stimme das Maß aller instrumentalen Nachahmung derselben.In Sinfonia und Schlusschoral der zweiten Kantate wird noch eins draufgesetzt: Das Wiegenlied der Maria wird zu einem Feuerwerk spritziger Linienakrobatik. Die Tempoepigonen müssen sich fragen lassen, ob die Hektik der Zeit als ein Zeichen des Zeitgeistes, Maß der Dinge ist oder ob man nicht gegensteuern müsste, damit die Seele noch „mitkommt“. Schade, dass solche Reflexion selten stattfindet.
Die Gächinger brillieren wie gewohnt: klanggewaltig bis klangselig im besten Sinne des Wortes. Die (Über-)Deklamation steht der kantilenen Homogenität oft entgegen, es wird textwidrig sogar innerhalb einer Silbe wiederholend portatiert. Die „dicken Striche“ überdecken im Extremfall so das Zarte der Schattierungstöne. Einzig die Orgel blieb recht farblos, obwohl das Instrument über die nötigen Register verfügt. Ton Koopmann und Hansjörg Albrecht spielen den Basso continuo viel plastischer und unterstützen die gebotene Farbigkeit.
Das Solistenquartett war ein typischer Glücksfall, wie bei Rilling nicht anders zu erwarten: Die quirlige Sopranistin Sibylla Rubens mit lyrischem Duktus machte aus den angemerkten Defiziten das Beste und sang mit Verve und wunderbarem Timbre. Bei der Echo-Arie „Flößt, mein Heiland“ war sie ganz sie selbst bis zur homogenen Agogik des bestätigenden „Ja“. Hellwach und mit angenehmem Wohlwollen nahm sie auch den Vortrag ihrer Mitsolisten wahr. Angemessenere Tempi hätten eine volle Entfaltung nur gefördert. Die Mezzosopranistin Sophie Harmsen erfüllte alle Kriterien vollendeten Gesangs: hochintelligent durchgestaltet, ohne jedes Forcieren — mit einer natürlichen Hingabe begeisterte sie in allen Facetten: lyrisch strömend oder energisch zupackend (beim „Schweigt, ER ist schon wirklich hier“ im Terzett mit Sopran und Tenor), eine wunderbare frauliche Wärme! Der Tenor Maximilian Schmitt ist ein idealer Evangelist, welcher der Weihnachtsgeschichte seinen ganz persönlichen Stempel aufdrückte, erzählend oder deklamatorisch deutend.
Aber die komplexe Problematik zeigte sich im Missverständnis staccatierter Koloraturen, die unnötig Luft kosten und kurzatmig machen. Dabei sind Stimmführung, Timbre und Gestaltungsintensität beispielgebend.
Sein Basskollege Georg Zeppenfeld demonstrierte überzeugend, wie gerade in der Grundtendenz des Legato die Stimme durchgehend verfügbar bleibt. Bei vollem Stimmumfang hatte er gar keine Mühe. Er war der Einzige, der die Rezitative vom Text her frei anging und so plausibel wie selbstverständlich zugleich umsetzte.
Es versteht sich bei Rilling von selbst, dass die Begleitung intentional ganz im Dienst der vokalen Partes stand, nur eben manchmal zu schnell und zu laut.
Der Beginn der Tournee (Leipzig, Berlin, Stuttgart) beeindruckte: Sechs Kantaten, ohne auch nur einen Augenblick geistige Präsenz vermissen zu lassen. Das Publikum war zu Recht begeistert.
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