Direkt zum Inhalt springen

Nachrichten Kultur

Die Orangenhäute in der Theaterwerkstatt mit ihrer Produktion Wir sind noch nicht tot

Lebendig wie selten eine Aufführung präsentierte sich „Wir sind noch nicht tot“, eine Eigenproduktion des Ensembles „Orangenhäute“ unter der Leitung und Regie von Rudolf Lachenmaier. Fünf bekannte literarische Figuren von Lysistrate bis Claire Zachanassian verbringen ihren Lebensabend im Altenheim.

Sonntag, 13. Dezember 2009
Rems-Zeitung, Redaktion
2 Minuten 31 Sekunden Lesedauer

THEATER (wil). In der ausverkauften Theaterwerkstatt fand am Donnerstag die Premiere der orangenhäutigen Eigenproduktion statt und riss das Publikum mit. Das Bühnenbild ist minimalistisch, aber effektiv und aussagekräftig: eine steril-​weiße Wand in abwaschbarer Plastikfolie mit Namensschildern und zugeteilten Fächern für die wenigen verbliebenen Habseligkeiten erleichtert auch gleich die Zuordnung der Charaktere. Dazu die nüchterne Atmosphäre eines Speisesaals mit kleinen Tischchen und – man betreut ja wohlhabende Gäste – Livemusik vom Piano, die Hajo Lange weitgehend selbst schuf und als gealterter Playboy perfekt intonierte.
Der Holländer sucht noch
immer die wahre Liebe
Nach und nach finden sich die Bewohner bei Tisch ein, Monika Veit als „Lysie“ Lysistrate im griechischen Gewand, Stephan Krebs in der Kapitänsuniform des Fliegenden Holländers, Helga Röger-​Schnell im dicken Mantel, schließlich trauert sie als „Rani“ Ranjevskaja ihrem Kirschgarten nach, Anthony O’Connell mit wallender Mähne und ordenbehängtem Mantel als King Lear und Regina Münsinger als die alte Dame Dürrenmatts. In perfekter Mischung aus Originaltexten, welche die Biografien der Heimbewohner ausmachen, dem obligaten Geschwätz zwischen Leuten, die sich täglich sehen und nerven und ihren ureigensten Wünschen und Hoffnungen, ihrer kritischen Auseinandersetzung mit dem Altern bestreiten die fünf Akteure fast zwei Stunden in rasantem Tempo. Da wird zitiert und fabuliert, gesungen von der Schnulze bis zur Arie und auch ein bisschen frivol getanzt. Denn Sex im Alter ist nicht auf die Erinnerung beschränkt und was der Anblick der stattlichen Zivis für die Damen, das könnten die Kellnerinnen für die Herren sein.
In den Details offenbart sich die Diskrepanz zwischen Wollen und Können, zwischen Leben und Siechen. So trägt der stolze Kapitän eben Filzpantoffel zur Uniform, baut König Lear statt an seinem Empire einen Turm aus Holzklötzchen, wartet die Milliardärin ungeduldig auf den Nachtisch aus der Fertigpackung. Was manchmal wie vergessener Text wirkt, wo Wiederholungen irritieren, lässt Alzheimer grüßen, vor dem niemand sicher ist und selbst mit Prothesen kann man Parkinson darstellen. Die beeindruckenden Wechsel zwischen Hinfälligkeit und Lebenslust zeigen Menschen, die noch immer im Leben stehen, wenn auch nicht mehr mit der gewohnten Kraft, aber noch immer erhebt sich Claire aus ihrem Rollstuhl zu einem flotten Tango.
Doch das Alter verändert. Fast plakativ wird am Anfang gezeigt, wie sich der Horizont einschränkt, die Mahlzeiten das Wichtigste vom Tag werden, die Leiden das Gespräch dominieren. Gesellschaftsspiele ersetzen andere Unternehmungen und ein bisschen Altersaggressivität stört ab und an die Harmonie. Aber da sind die Erinnerungen, die so im Gegensatz zur aktuellen Situation stehen. Der senile Lear wartet auf den Besuch seiner Töchter zum Geburtstag und weiß viel Gutes von ihnen zu berichten, der Holländer sucht noch immer die wahre Liebe und die treue Braut, Lysistrate sehnt sich nach Zärtlichkeit und wollüstiger Liebe und die ausschweifende Rani wird zur Wächterin der Moral.
Macht es die Vielschichtigkeit des Stückes manchmal schwer, alles zu erfassen, so ermöglicht die Darbietung doch das genüssliche Mitgehen. Stimmgewaltig intoniert Stephan Krebs die Steuermann-​Arie, komödiantisch trällert das Ensemble „Tanze mit mir in den Morgen“, lyrisch verlangt Regina Münsinger nach dem Knefschen Rosenregen und kraftvoll erklingt die Buddel mit Rum aus der Schatzinsel.
Der Bogen neigt sich: Aus dem Gesellschaftsspiel wird Ernst, durch Stöckchenziehen wird die Leiche des Tages bestimmt. Immerhin könnte es jeden Tag jeden von ihnen treffen — doch sie sind unsterblich.

Es ist noch mehr von den „Orangenhäuten“ zu erwarten. Das Ensemble plant im
nächsten Jahr weitere Auftritte im
Gmünder Raum.

14 Tage kostenlos und unverbindlich testen?
Das RZ-Probeabo - digital oder klassisch mit Trägerzustellung

3369 Aufrufe
605 Wörter
5255 Tage 5 Stunden Online

Beitrag teilen

Hinweis: Dieser Artikel wurde vor 5255 Tagen veröffentlicht.


QR-Code
remszeitung.de/2009/12/13/die-orangenhaute-in-der-theaterwerkstatt-mit-ihrer-produktion-wir-sind-noch-nicht-tot/