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Ein Migranten-​Projekt der Volkshochschule wurde in einer Lesung vorgestellt

„Mein Haus hat keinen Boden, wo ich Wurzeln schlagen könnte — ich ziehe es vor, in den Lüften zu wurzeln“, so lyrisch beschreibt Annabella Akcal eine eigentlich bedrückende Situation, die Identitätssuche von Migranten.

Mittwoch, 17. November 2010
Rems-Zeitung, Redaktion
2 Minuten 27 Sekunden Lesedauer

AUTOREN (wil). Die Gmünder Volkshochschule beteiligt sich seit über einem Jahr mit einer Schreibwerkstatt am EU-​Projekt „Cultural Migration in Autobiography“ und die (ersten) Ergebnisse wurden am Freitag bei einer Lesung vorgestellt.
Fünf Frauen und ein Mann haben sich der Aufgabe gestellt, über ihr Leben zu schreiben, schlaglichtartige Erinnerungen festzuhalten oder umfassend ihre Vergangenheit aufzuarbeiten.
Gefördert von der VHS und unterstützt von Eva Christina Zeller, selbst Autorin und Betreuerin der Schreibwerkstatt, traten sie am Freitagabend im wohl gefüllten Saal der Volkshochschule an die Öffentlichkeit. Reinhard Nowak, Initiator des Projekts in Gmünd, stellte die Mitglieder und ihre Texte vor, denen eigentlich außer dem Migrationshintergrund nicht viel gemeinsam war.
Fremd und zerrissen — das
Gewicht des „Seelenkoffers“
Dennoch hatte der Abend eine klare Struktur. Andelka Krizanovic hatte den Kriegsausbruch in Jugoslawien 1992 als Schulkind erlebt und berichtete nun aus dieser Sicht über die guten Nachrichten aus jenen Tagen, so eben den totalen Unterrichtsausfall.
Janez Travner aus Kroatien ging in seinen Erinnerungen zu einem anderen Krieg zurück, dem Zweiten Weltkrieg, in dem er als Junge den Einzug feindlicher Panzer in sein Dorf erlebte. Und auch nach fast 70 Jahren werden bei ihm die Empfindungen noch spürbar, Eindrücke, die man offenbar ein Leben lang nicht vergisst. Colette Eisenhuth, gebürtige Belgierin, verbrachte viele Jahre in Afrika und schildert in ihrem Beitrag das Fernweh, die Sehnsucht, mehr von dieser Welt kennen zu lernen — und dann doch fremd und hilflos zu sein.
„Der Friedhof“ war der Titel von Helga Kleins autobiografischem Text, in dem sie sich in ihre Kindheit in Siebenbürgen zurückversetzt. Neben der Schule lag er, war jahrelang Schulweg und Pausenhof und mit knappen Worten lässt sie die Kälte spüren, sowohl des Gebirgswinters wie auch des kommunistischen Systems, welches ihre Schulzeit und Jugend bestimmte. Dagegen die Wärme des Elternhauses und die Zwiesprache mit der verstorbenen Mutter, die sie auf jenem Friedhof zurücklassen musste. Hier wird die Frage nach Heimat spürbar, obwohl die „neue“ Heimat die der Vorfahren ist.
Zwischen gefühlter und gelebter Heimat unterscheidet auch Emine Beyer mit ihrem Text über die Rückkehr in den Schoß der Familie im Südosten der Türkei. Früher legte man die Strecke im Familien-​Van zurück, heute nutzt sie das Flugzeug, wird vom Cousin abgeholt und empfindet ihre Ankunft als irreal. Was hier ihre Sehnsucht ausmacht, ist ihr dort fremd, sie spürt, nicht dazuzugehören, in eine Welt einzudringen, von der sie träumt, in der sie aber nicht lebt. Emine Beyer fasst diese Zerrissenheit vieler Gastarbeiterfamilien in bewegende Worte, diese verschiedenen Wohnorte von Körper und Seele.
Annabella Akcal, die mit ihrem Beitrag „Ein Haus in den Lüften“ den gelungenen Schlusspunkt der Reihe setzte, hat diesen Zufluchtsort in der Fremde nicht. Sie ging hier zur Schule, auf sie wartet kein Familienclan im fernen Süden, sie kennt das kahle Land um Urfa nur aus den Erzählungen ihrer Mutter.
Doch es ist deren Heimat, nicht die ihre — aber auch Gmünd ist (noch) nicht ihre Heimat, sie ist keine Schwäbin, auch keine türkische. Da sie keine Wurzeln für sich findet, ihre „Sohlen haften unsicher“, sehnt sie sich nach den Lüften. Sie fühlt sich auch den Türken in Deutschland nicht zugehörig, „die ewig in Seelenkoffern leben“, wie sie den immer unerfüllt bleibenden Wunsch nach Rückkehr nennt. Sie will „ein Haus in den Lüften“, denn „meine Heimat gibt es nicht“. Der verdiente Beifall für alle Vortragenden dürfte aber auch Annabella Akcal ein wenig mehr an Gmünd gefesselt haben.

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