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Flucht vor der Wesenlosigkeit der Werte /​Theater 1098 gastierte mit „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ in der Theaterwerkstatt

Spritzig inszeniert war es schon, das Drama um George und Martha – bekannt unter dem Titel „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ Allein die Aussage des Stücks versinkt fünfzig Jahre nach der Uraufführung allmählich unter einem dichten Staubschleier.

Freitag, 26. November 2010
Rems-Zeitung, Redaktion
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THEATER (wil). Was 1962 als schockierende Gesellschaftskritik auf die Broadway-​Bühne im Billy Rose Theater kam, hat heute seinen Schrecken abgelegt. Zu fern ist uns inzwischen das Lebensgefühl jener Zeit, zu sehr sind die gegeißelten Zustände aus unserem Bewusstsein verschwunden. Sicherlich tobt der Kampf der Geschlechter noch in jeder Ehe– und Partnerbeziehung, aber systematische Unterdrückung der Frau findet nur noch Alice Schwarzer. Auch der Mann, der sich des Geldes und der Macht seiner Frau schämt, ist spätestens seit Professor Sauer out. Und Outings am laufenden Band haben Homosexualität gesellschaftsfähig, ja sogar politisch annehmbar gemacht. Was also bleibt von den Schocks, die Edward Albee in den sechziger Jahren gesetzt hat?
Das Freiburger Theater 1098 hat sich dennoch des Theaterklassikers angenommen und es gewagt, damit auf Tournee zu gehen. Drei Dramaturgen hätten sie verschlissen, um das Vier-​Stunden-​Stück auf die erträgliche Hälfte zu kürzen, berichtet der Regisseur und Motor des Ensembles Dietmar Berron-​Brena. Übrig geblieben ist eine spritzige Komödie, die mehr zum Lachen als zur Betroffenheit reizt. Maria Jasper als Gastgeberin Martha wucherte mit ihren Pfunden (wobei auch das schauspielerische Talent gemeint ist) und mimte perfekt die abgetörnte, frustrierte Ehefrau, die sich einfach nur noch das nimmt, was sie bekommen kann – im Glas oder im Bett. Denn was von Albees Stück noch immer aktuell ist sind die Szenen der Ehe, die gegenseitigen Abhängigkeiten, das Nichtertragenkönnen von Gewohnheiten des anderen, die alltäglichen kleinen Nadelstiche.
George (Walter Rohrer) hat seine Martha aus Karrieregründen geheiratet, sie wollte sich in ihm verwirklichen – ein Ehemuster, das auch heute noch existiert, meist jedoch jenseits der Silberhochzeit. Beider Traum platzte und nun leben sie in materiellem Wohlstand, emotionaler Armut und sexuell mit getrennten Konten. In diese Atmosphäre der alkoholgeschwängerten Einsamkeit platzt zu später Stunde das junge Paar Nick und Baby. Nick (Daniel Leers) ist aufstrebender Professor am College, das Marthas Vater gehört, Baby (Sonja Engler) gibt zuerst die unerfahrene, zarte junge Frau.
Zunächst lassen sich die beiden die Pöbeleien der Gastgeber gefallen, setzen schüchtern ihr „das ist mir unangenehm“ dagegen und verweisen so auf die ehernen Regeln der besseren Gesellschaft. Doch bald fallen auch bei ihnen die Hüllen der Etikette, vor allem Baby rutscht förmlich in eine zweite Haut und mutiert zum raffinierten Biest. Wie von Albee intendiert, sind es auch schauspielerisch die Frauen, die dominieren. George bleibt der der Pantoffelheld, der aber zurück beißt, Demütigungen hinnimmt und erwidert — ein idealer Mitbewohner in Sartres geschlossener Gesellschaft.
Etwas aus der Zeit gepurzelt ist Dad, Marthas Vater, der als Über-​Ich meist stumm auf der Bühne präsent ist. Doch mit seiner Klavierbegleitung unterstützte er die Akteure und machte das Gesellschaftsdrama erträglicher.

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