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Die Philharmonie Schwäbisch Gmünd in ihrem Element und im Zusammenspiel mit dem Violinisten Fabian Wettstein

Tanja Goldstein, die überaus quirlige Dirigentin der Philharmonie Schwäbisch Gmünd, wartet bei jedem ihrer Konzerte mit neuen Überraschungen auf. Diesmal war es die Lichtinstallation Ulrich Nickels, welche das gesamte musikalische Geschehen begleitete.

Dienstag, 30. November 2010
Rems-Zeitung, Redaktion
2 Minuten 48 Sekunden Lesedauer

KONZERT (-ry) Bereits beim Betreten des Peter-​Parler-​Saales leuchteten einladend gotische Kirchenfenster auf der Bühnenleinwand (farbige Glaskunst) und an den Seiten (Fenstergerippe), atmosphärisch anheimelnd, ein optischer Introitus zum ersten Vortragswerk: J. S. Bachs Choralbearbeitung „Komm, Gott, Schöpfer, Heiliger Geist“ in Arnold Schönbergs Bearbeitung für Großes Orchester.
Wer die (aus unterschiedliche Motiven umstrittene) Orchestrierungskunst eines Leopold Stokowski kennt, kann sich deren Faszination nicht entziehen, zumal dieser dem Orchester bei aller Führung viel Freiheit lässt. Das Ergebnis: höchste Plastizität an Farben, Effekten und Dynamik. Und kaum ein anderer als Altmeister Bach bietet so viele Möglichkeiten der Bearbeitung. Kein Wunder also, dass Arnold Schönberg auf seine Weise Ähnliches versuchte. Natürlich ist die Terrassendynamik des „starren“ Prinzips Orgel etwas ganz Eigenes, Unwiederholbares, dafür entsteht in Schönbergs Orchestrierung ein geradezu romantischer Fächer an Klangpaletten. Und da Tanja Goldstein solche Effekte liebt, sie förmlich zelebriert, entsteht unter ihren Händen ein Pfingsthymnus mit vielen Ritardandi, welche auf den Zielpunkt zusteuern. Bei aller Kürze des Bachschen Originals wird man einer gedrängten Dichte gewahr, die musikalisch gleichsam explodiert.
Nach diesem fulminanten Auftakt — zur ornamenthaften Ruhe des optischen Liniengeflechts — folgt dessen konsequente Weiterführung: das Violinkonzert d-​Moll op. 47 des Finnen Jean Sibelius: ein Erstaunen nach dem anderen: Orgelpunkte oder sehr lange Tenuti der Orchesterbegleitung, über denen sich das Solo zugleich virtuos und sensibel entfaltet.
Mit dem erst 31-​jährigen Konzertmeister der Württembergischen Philharmonie Reutlingen, Fabian Wettstein, hatte Tanja Goldstein einen jener begnadeten Geiger verpflichtet, der ganz natürlich, ohne Allüren, geradezu den Prototyp eines Künstlers darstellt, wie man ihn sich nur wünschen kann. Was er an Facettenreichtum seiner wunderbaren „Antonius & Hieronymus Amati“ von 1583 entlockt, deckt wie selbstverständlich alle Nuancen von zupackender Virtuosität zu sublimster Intimität ab.
Natürlich hat Wettstein von seinen Lehrern viel lernen können, insofern dies aber nicht personal verinnerlicht ist, kann es keine Reife geben. Und genau diese Kompetenz zieht sich wie der berühmte „rote Faden“ durch das allein technisch heikle Konzert. Im Reigen der großen „Geschwister“ nimmt Sibelius’ Violinkonzert einen ganz hervorragenden eigenen Platz ein und begeistert das Publikum nachhaltig. Der ständige Zwischenapplaus (des unwissenden jungen Teils) des Publikums hatte als Reaktion durchaus seine (unübliche) Berechtigung.
Die vielen Solokadenzen, die wundervollen Melodien, vor allem im Adagio molto, die rhythmisch-​pointierte Akzentuierung in der Ekstase des Finalsatzes — all das bereitete einen unvergesslichen Hörgenuss — von Ulrich Nickel mit türkiser Fläche zurückhaltend koloriert.
Der aufbrandende Applaus (auch der begeisterten Philharmonie, die überaus einfühlsam und differenziert begleitete) bescherte eine besondere Zugabe: einen großen Ausschnitt aus J. S. Bachs Partita II d-​Moll (BWV 1004) für Violine solo: aus der Chaconne. Das war derart sublim der historisch informierten Aufführungspraxis geschuldet: nicht wie zuweilen akademisch-​epigonenhaft, sondern so fein verinnerlicht, dass Melos, Arpeggien, rasante Linien und Doppelgriffigkeit bis zum Einklang auf zwei Saiten jene Tiefe erschloss, die man nur mit demütigem Hören und dankbarem Staunen vernehmen kann. Den Namen Fabian Wettstein wird man sich merken, der jetzt schon zu den ganz Großen zählt.
Nach der Pause erklang Antonin Dvoraks Neunte, „Aus der neuen Welt“ — jene Reverenz an Amerika, die aus sich und für sich selbst spricht. Da waren Dirigentin und Orchester in ihrem Element: große Klangentfaltung, großer Gestus — eine selbstbewusste Philharmonie, die willig der Partitur, deren intendiertem „Sturm und Drang“ und entsprechender dirigentischer Gestik der Chefin folgte. Die Intonationsproblematik des Englischhorns nur zu Beginn des Largo und diejenige der Bratschen im Scherzo waren schnell vergessen angesichts des sonst vollkommenen Einsatzes von Orchester(gruppen) und Dirigentin. Jetzt war auch die Lichtillustration bestimmt vom schnellen Wechsel der Emotionen (Gestirnhimmel, Linienfiligran, Landschaften, schließlich die Freiheitsstatue).
Und als ob das Turbotemperament immer noch nicht ausgereizt wäre — ja, es folgte ein Auftürmen der Gefühle in der Zugabe, dem Schluss von Sibelius’ Finlandia op. 26, jener „politischen“ Sinfonischen Dichtung, welche den Wert der Heimat verteidigt. Nach so viel Enthusiasmus darf man auf das Konzert im Mai 2011 gespannt sein, mit der noch anspruchsvolleren Fünften von Tschaikowskij (es dürfte auch mal wieder ein elementarer Haydn sein!).

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