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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

RZ Serie (1) über die Begleitung und Unterstützung Krebskranker und ihrer Angehörigen

Es hat sich herumgesprochen, dass neben der Stauferklinik eine von nur vier Krebsberatungsstellen im Land entstanden ist. Aber was genau erwartet Betroffene dort? Und was verlangt dieHilfe den Helfern ab? Die Rems-​Zeitung geht diesen Fragen nach.

Freitag, 05. November 2010
Rems-Zeitung, Redaktion
4 Minuten Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND (bt). Anne Singer (Name geändert) ist nicht wie die meisten Tumorpatienten, die zu Psychologin Barbara Vratil kommen. Sie leidet nicht an den Folgen von Chemotherapie und Bestrahlung. Auf den ersten Blick wirkt die attraktive Frau, der die 65 Jahre ganz bestimmt nicht anzusehen sind, wie das blühende Leben. Schwer vorstellbar, dass sie sich mit dem Gedanken an den Tod vertraut machen musste. Und lernen, mit der Angst zu leben. Dass sie mittlerweile zurecht kommt, irgendwie, ist nicht zuletzt Barbara Vratil zu verdanken — Anne Singer spricht von einer segensreichen Einrichtung, die unbedingt überdauern müsse. Um ihren Teil dazu beizutragen, hat sie der RZ ihre Geschichte erzählt.
Anne Singer will nicht undankbar sein. Sie habe immer Glück gehabt in ihrem Leben, erzählt sie. Sie erinnert sich an eine schöne Kindheit und an das gute Gefühl geliebt und geborgen zu sein. Dann heiratete sie ihre große Liebe, und gemeinsam reiste das Paar viel, lebte lange, gute Jahre im Ausland. Sie hat eine wunderbare Tochter, die für sie da ist und sie nach Kräften unterstützt. Hinzu kommen „ein intaktes soziales Umfeld“, wie sie sagt — Freunde, Vertraute. So war es, dieses glückliche Leben. So ist es aber nicht geblieben. 2005 ist ihr Mann sehr plötzlich gestorben. Sie leidet seit einigen Jahren an einem schlimmen Tinnitus, der sie zunächst an den Rand der Verzweiflung und darüber hinaus trieb. Bis auf einen einzigen starben all ihre Hunde, ein Bandscheibenvorfall im Halswirbelbereich machte ihr zu schaffen, und dann, im Dezember 2007, ertastete sie Knoten im Hals. Wucherungen, die im März entfernt wurden. Am Gründonnerstag dann rief die Ärztin an, die den Eingriff vorgenommen hatte. Und seither ist nichts mehr wie es war. An diesem Tag erfuhr Anne Singer, von ihrem Hodgkin-​Lymphom im 3. Stadium, einem bösartigen Tumor des Lymphsystems. Sie war immer eine starke Frau, beruflich erfolgreich, ihrer selbst sicher — aus eigener Stärke heraus, aber auch Dank der Gewissheit, geliebt zu werden, liebenswert zu sein. Das hier war ganz neu. Stellte alles auf den Kopf, was ihr Leben bis dato bestimmt hatte. Theoretisch lässt sich diese Krankheit, die Hals, Ober– und Unterbauch befallen kann, durch eine Kombination aus Chemotherapie und Bestrahlung behandeln — wenn nur ein oder zwei Areale betroffen sind. Bei Anne Singer aber hatte sich der Lymphknotenkrebs bereits an allen nur möglichen Stellen festgesetzt. Und das bedeutet in der Praxis, dass die Medizin hilflos ist, dass nichts bleibt als regelmäßige Kontrolluntersuchungen.
Natürlich wurden Krankheit und Diagnose nach allen Regeln ärztlicher Kunst hinterfragt. Anne Singer hat die Rückenmarkspunktur ebenso hinter sich wie Sitzungen in der Computertomographie. Nichts hat sich geändert. Warten war und ist ihre einzige Option. Sie sprach lange mit Prof. Dr. med. Holger Hebart, Leiter der Inneren am Klinikum, holte in der Klinik für Tumorbiologie in Freiburg eine zweite Meinung ein — und fiel dann „ins Bodenlose“. Alles schien möglich, insbesondere eine Lebenserwartung von wenigen Wochen. In dieser ersten Zeit hat Anne Singer nichts unternommen, sich bei niemandem gemeldet: „Funkstille“. Als ihr dann irgend wann bewusst wurde, dass sie auf diese Weise die Zeit, die ihr bleibt, verloren gab, begann sie mit autogenem Training — die Kursleiterin ist heute ihre beste Freundin — und beschloss, wieder aktiv am Leben teilzuhaben. Wie gesagt, sie hatte noch nie anderen ihre Probleme aufgebürdet, und so war ihr wohl gar nicht bewusst, dass sie den Krebs nicht zum Thema machte. Dass sie über ihre Gefühle nicht sprechen konnte. Statt dessen hatte sie plötzlich massive Probleme mit ihrem Alltag. „Schusslig“ sei sie gewesen, erzählt sie, eine Unfallserie ohnegleichen habe sie heimgesucht. Sie hat sich unter anderem den Fuß verstaucht, den Zeh und einen Arm gebrochen, sie stürzte und stolperte, hat Kamera und Handy verloren und ihr Auto im Parkhaus um einen Pfeiler gewickelt. Sie konnte nicht mehr schlafen, litt unter Stress, war am Boden zerstört und litt ansonsten unter fortwährenden extremen Stimmungsschwankungen. Die Krankenkasse reagierte auf ihre Bitte um eine Therapie — immerhin, so ärgert sie sich, war sie ohne eigenes Verschulden so krank geworfen — mit derartigen bürokratischen Hindernissen, dass sie diese Idee aufgab. Eine Psychotherapeutin, bei der sie Hilfe suchte, konnte ihr nicht helfen.
Um diese Zeit hat ihr Holger Hebart erneut angeraten, bei Barbara Vratil in der ambulanten Psychosozialen Krebsberatungsstelle um einen Termin zu bitten. Die Zeit war wohl reif für diese Entscheidung, die im Rückblick die alles entscheidende Wende eingeleitet hat.
Sichtlich bewegt versucht Anne Singer ihre Dankbarkeit in Worte zu fassen. Zu erklären, was es in ihrer Situation bedeutet hat, auf jemanden zu treffen, „der so mitfühlend ist, so aufmerksam, der Patienten eine lange Leine lässt, ein Ausweichen aber nicht zulässt“. „Sie hat unendlich viel Geduld“, sagt Singer, „und sie bringt so viel Wärme ein, dass man sich öffnen kann.“ Die Sitzungen waren wohl allesamt strapaziös, erleichterten aber auch. Endlich konnte sie weinen. Und wieder die Dinge sehen, die das Leben lebenswert machen und nur darauf warten, wahrgenommen zu werden. Anne Singer blickte wieder nach vorne, weigerte sich, sich vom Krebs überrollen zu lassen. Und ihre „Unfälle“ hörten auf. Barbara Vratil, Marita Ellwanger — Sekretärin und guter Geist der Einrichtung -, sowie die gesamte freundliche Atmosphäre in den Räumen der Beratungsstelle haben Anne Singer „wirklich geholfen“. Dafür ist sie unendlich dankbar.
Heute übt sie sich in Entspannungstechniken, beschäftigt sich mit Buddhismus und tibetanischer Medizin, und vor allem zieht sie sofort die Notbremse, wenn der Druck wieder stärker wird. Dann sagt sie auch schon mal Termine ab und zieht sich zurück. Zu wissen, dass sie jederzeit bei Barbara Vratil anrufen könnte, ist einer jener Faktoren, die sie bestehen lassen.

In Mutlangen ist die einzige Krebsberatungsstelle entstanden, die keine große Institution wie eine Uniklinik oder die AWO im Rücken hat, die praktisch ausschließlich von Menschen finanziert wird, die erkannt haben, was Betroffene brauchen. Willkommen sind alle, die Rat und Hilfe suchen; das Ganze ist kostenfrei, und natürlich ist Verschwiegenheit garantiert. Informationen und Anmeldung bei Marita Ellwanger, Tel. 0 71 71/​49 50 230, Montag bis Freitag von 8.30 bis 12.30 Uhr.

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