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Am Chor des eingerüsteten Prediger erinnert ein Denkmal von 1927 an die in Schwäbisch Gmünd stationierten Soldaten, die an der Somme-​Schlacht teilnahmen

Der Chor des Prediger ist eingerüstet, und mit ihm das Denkmal für jene Soldaten, denen das einstige Dominikanerkloster zuletzt als Kaserne diente. Zusammen mit der Gedenktafel der Brünner und jener für die Gmünder Opfer von Gewalt und NS-​Terror stellt es ein eindringliches Mahnmal für die Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts und deren Folgen dar. Von Reinhard Wagenblast

Sonntag, 29. August 2010
Rems-Zeitung, Redaktion
4 Minuten Lesedauer

GESCHICHTE. Man geht an ihr meist achtlos vorüber, an dieser auf einer Konsole und unter einem geschweiften Baldachin stehenden, leicht gekrümmten Frauenfigur mit dem kummervollen Gesicht, wenn man den Johannisplatz überquert. Eine der schmalen Gestalten, wie sie der Gmünder Bildhauer Jakob Wilhelm Fehrle in den 20-​er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in seiner gotisierend-​expressiven Phase häufig schuf, hier aus farbig gefasster Terrakotta. Auf den ersten Blick eine Ähnlichkeit mit einer Marienfigur, aber eigentlich eine trauernde Mutter oder verlassene Frau darstellend. Jetzt schaut man eher hin: das Denkmal ist eingegittert, teils verborgen hinter Gerüststangen und –brettern, ein ungewohnter, verfremdeter Anblick.
Die Tafel darunter ist ebenfalls teils verdeckt, wer sie lesen will, muss sich hinter den Gitterzaun begeben (und riskieren, dass Schutt aus dem Predigersaal auf ihn herabfällt). Die Inschrift vermerkt, dass hier von 1897 bis 1919 das 10. Württembergische Infanterie-​Regiment Nr. 180 stationiert war, neben Tübingen der zweite Standort. Das zweite Bataillon hatte seinen Standort im Prediger. „Im Heldenkampf 1914 — 1918 /​starben den Tod fürs Vaterland 141 Offiziere und mehr als 3000 Unteroffiziere und Mannschaften. Vogesen Ancre /​Somme-​Schlacht Thiepval /​Artois Flandern Arras /​Ehret die Toten.“ Das Denkmal stammt von 1927, das Gmünder Stadtarchiv besitzt ein Foto von der feierlichen Einweihung. Reichswehrsoldaten salutieren auf dem Johannisplatz vor dem mit Girlanden geschmückten Prediger und dem noch verhüllten Denkmal, Honoratioren, Bürger umringen sie.
„Warum ließen sie den
Angriff einfach weiterlaufen?“
Die Schlacht an der Somme, bald 100 Jahre her. Verdun ist hierzulande geläufiger für das Massen-​Abschlachten des Ersten Weltkrieges, wenn man mit diesem noch eine Vorstellung verbindet. Man spricht von ihm als „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts, aber dennoch ist er der Krieg, der hinter den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und der Shoah fast verschwunden ist. „Er ist der vergessene Krieg, auch hier“, meint Stadtarchivar Klaus Jürgen Herrmann.
„Gramvolle Dinge, alt und fern“, wie der Dichter William Wordsworth sagt. Die Somme, ein träger Fluss in Nordfrankreich, die belgische Grenze und der Ärmelkanal sind nicht weit, die Front verlief südwestlich von Cambrai. In England befassen sich die Historiker noch immer mit dieser verlustreichsten Schlacht dieses Krieges, alle paar Jahre erscheinen mehr oder minder profunde Werke; die „war poets“ wie Siegfried Sassoon und Robert Ranke-​Graves verliehen in den 20-​er Jahren dem „Empfinden einer ganzen Generation“ Ausdruck, wie es heißt. Man liest ihre Werke und Gedichte heute noch; es geht darin auch um die Unvermeidbarkeit des Todes schlechthin. Die Somme-​Schlacht gehört zu den epischen Ereignissen der englischen Geschichte, der 1. Juli 1916 war der verlustreichste Tag, den das britische Militär je erlitt.
Der Militärhistoriker John Keegan hat in seinem klassisch gewordenen Werk „Das Antlitz des Krieges“ (1975) versucht, an den Beispielen dreier Schlachten — Azincourt 1415, Waterloo 1815 und eben die Somme 1916 — das Unbeschreibliche zu beschreiben, er ließ die Fakten und die Beteiligten selbst sprechen: „Die wirkliche Tragödie aber liegt in der gewaltigen Disparität der deutschen und der britischen Verluste: Das deutsche 180. Regiment verlor von etwa 3000 Mann am 1. Juli rund 280; die dieses Regiment angreifende britische Division verlor 5121 von 12000. Insgesamt hatten die Briten Verluste von etwa 60000 Mann zu beklagen, von denen 21000 zumeist in der ersten Stunde des Angriffs und vielleicht sogar in den ersten Minuten starben. ‘Der Schützengraben’, schrieb Robert Kee 50 Jahre später, ‘war das Konzentrationslager des Ersten Weltkrieges’, und mag der akademische Betrachter eine solche Analogie auch für unhistorisch halten, so muten doch fast alle Beschreibungen des 1. Juli ‘treblinkahaft’ an, wenn man sich jene langen gefügigen Reihen uniformiert-​zerlumpter, schwer bepackter und ihre Nummer um den Hals tragender junger Männer vorstellt, die sich über zerstörtes Land ihrem Ende im Stacheldraht entgegen schleppen. (…) Wut ist die Reaktion der meisten, wenn die Rede auf die Somme kommt. Warum haben die Befehlshaber nichts getan? Warum ließen sie den Angriff einfach weiterlaufen? Warum hielten sie das eine Bataillon nicht einfach zurück, im Sog des anderen nachzurücken und mit ihm unterzugehen?“
Es gibt auch andere Zahlen als die, welche Keegan nennt. Am Faktum ändern sie nichts: Das Trommelfeuer der englischen Artillerie hatte die deutschen Stellungen mit den Maschinengewehren nicht zerstört. Die Soldaten wurden Opfer des MG-​Breitenfeuers. Über das Maschinengewehr und seine Wirkung schreibt Keegan, dass es sein wichtigstes Attribut sei, eine Maschine zu sein, ähnlich einer Präzisionsdrehbank oder eine Presse; „den MG-​Schützen muss man sich als eine Art Maschinenbediener vorstellen (…) Mit dem Auftauchen des Maschinengewehrs war also der Tötungsakt weniger — wie es Zweck des Drills im 17. Jahrhundert gewesen war, diszipliniert als vielmehr mechanisiert oder industrialisiert worden.“
Und die Deutschen, jenes 180. Regiment, das aus Schwäbisch Gmünd und Tübingen kam?: „Gerade erst einem schrecklichen Trommelfeuer entronnen, zahlenmäßig unterlegen und eben erst dem Tod durch eine Handgranate entkommen, waren sie psychisch so unter Druck, dass sie auf jeden schossen, der den Angriff auf ihre Stellung auch nur mit einer Handbewegung zu erneuern drohte.“
Wie es der Zufall will: Erst in dieser Woche, als wir den Stadtarchivar auf das Denkmal ansprachen, traf eine Broschüre aus dem Jahr 1917 ein. Brigitte Mangold hat sie antiquarisch entdeckt und für den Bestand des Gmünder Stadtarchivs erworben: „Das 10. Württ. Infanterie Regiment No. 180 in der Somme-​Schlacht“. Das Titelblatt trägt ein makabres Bild zur Schau: das zerstörte Schloss Thiepval, hinter dem die Morgensonne ihre Strahlen leuchten lässt. Verfasst hat die Beschreibung der Kämpfe der Regimentskommandeur Alfred Vischer. Eine Beschreibung in überwiegend sachlichem Ton, zusammengefasst wohl aus den Regimentsaufzeichnungen. Das liest sich beispielsweise so: „Der Angriff gegen P 4 (eine Kompaniestellung) kam ins Stocken (…) Der Gegner suchte nun den Hohlweg zur Annäherung zu benutzen, wurde aber daran durch das Feuer eines rasch auf dem hinteren Erdaufwurf des ersten Grabens in Stellung gebrachten Maschinengewehrs verhindert. Die im Hohlweg zusammengedrängte Abteilung in Stärke von etwa 150 bis 200 Mann wurde buchstäblich niedergemäht.“
Keegan geht auch auf die britischen Freiwilligenregimenter ein, gebildet aus Scharen junger Männer, die sich in einer Massenbewegung voll patriotischer Inbrunst zum Kriegsdienst gemeldet hatten, ähnlich wie die deutschen Primaner, die im „Kindermord“ von Ypern 1914 ums Leben kamen: die „Pals“, die Kumpels, die sich aus gemeinsamen Heimatstädten, Fabriken, Vereinen kannten. In einem anderen Abschnitt der Front gingen die „Barnsley Pals“ auf die deutschen Linien zu und zugrunde.
Vischer verzeichnete auch die eigenen Verluste; die der Offiziere mit Namen, sonst nur Zahlen. Die Schlacht wurde im November 1916 abgebrochen. Die unerträglich gewordenen Verluste glichen sich auf Dauer aus. Tot oder verwundet waren nach dem monatelangen Abschlachten 430000 deutsche Soldaten, 420000 Briten, 200000 Franzosen.
Gramvolle Dinge, alt und fern. Das Unbeschreibliche beschreiben.

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