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Europäisches Kirchenmusikfestival: Stummfilm ging den Besuchern zu Herzen

Viele ausgezeichnete Stummfilme wurden in den letzten EKM-​Jahren aus der Versenkung ans Licht geholt und mit Live-​Improvisation präsentiert. Der aber am meisten zu Herzen gehende Film war wohl derjenige vom Freitagabend in der Franziskuskirche, natürlich auch die vielschichtige Generationenproblematik ausleuchtend.

Mittwoch, 04. August 2010
Rems-Zeitung, Redaktion
2 Minuten 48 Sekunden Lesedauer

KONZERT (-ry). Das 117-​minütige cineastische Meisterwerk „Visages d’Enfants“ von Jacques Feyder aus den Jahren 1923 bis 25 verdient das Prädikat „sensibel“ in allen Belangen, auch in der gleichfalls sehr einfühlsamen Musik der Karlsruher Künstler Holger Ebeling (Flügel, Keyboard, Sitztrommel) und Matthias Graf (Violine, Bambus-​Saxophon). Der Film ist das Soziopsychogramm einer Familienkonstellation in einem Bergdorf (im Wallis authentisch gefilmt mit vielen Laien, „unverdorbenen“ Dorfbewohnern).
Einer Familie stirbt die Mutter, der anderen der Vater weg. Die verbliebenen Erwachsenen finden zueinander, heiraten und ziehen zusammen. Der überaus feinfühlige Jean kann den Tod der Mutter nicht überwinden, erlebt sogar einen Schock. Sein Pate, der Dorfpfarrer, wacht an seinem Bett; er nimmt ihn mit zu einer Auszeit bei einem befreundeten Geistlichen und versucht, dem Jungen die ihn erwartende Familienzukunft liebevoll schonend zu vermitteln. Aber das Unglück nimmt seinen zunehmend tragischen Verlauf: Die neue Mutter bemüht sich rührend, aber konsequent um den Jungen, dessen Schwester und die Stiefschwester eigentlich gut miteinander können, bis der sich steigernde Hass Jeans auch die Mädchen ansteckt. Einzig das große Wandbild der verstorbenen Mutter, aus dem diese herauszulächeln scheint, spendet ihm Trost.
Die Hassattacken führen zu unliebsamen Verwicklungen und erreichen ihren Höhepunkt, als Jean nachts seiner Stiefschwester eine verschlossene Seitentür des Hauses öffnet, damit Pierrette ihre während einer Pferdeschlittenfahrt verloren geglaubte Puppe suche, die Jean, während sie schlief, auf den Weg fallen ließ und von der er sagt, sie müsse gleich hinter der Brücke sein. Pierrette verirrt sich auf den Schneepfaden, eine gewaltige Lawine löst sich und deckt eine kleine Marienkapelle zu, in die sich das Mädchen in letzter Sekunde flüchten konnte.
Als das Warten für Jean immer unerträglicher wird, bekommt er Gewissensbisse und beichtet dem Vater die Bosheit. Der sucht mit eiligst herbeigerufenen Nachbarn alle möglichen Wege ab, entdeckt das aus dem Schnee herausragende Kapellenkreuz und darin Pierrette. Die arme Stiefmutter ist vor bitterem Kummer am Ende ihrer Kräfte, bis Vater Victor das gesuchte Kind auf den Armen hereinträgt.
Jean wird durch Schuldgefühle immer mehr in seine Einsamkeit verstrickt. Er will nicht länger leben, schreibt dem geliebten Vater einen Abschiedsbrief, übergibt ihn Pierrette, bittet diese um Verzeihung und als Zeichen dafür um einen Vergebungskuss. Spontan küsst Pierrette Jean, schöpft aber ahnungsvollen Verdacht und springt mit der kleinen Stiefschwester zur Mutter. Diese läuft instinktiv zum Unglücksort und kann Jean aus dem tosend reißenden Fluss bergen, trägt ihn nach Hause und hält ihn liebevoll und ängstlich zugleich im Arm, bis Jean endlich die Augen aufmacht. Kein kitschig billiges Happy End, sondern ein alle(s) versöhnendes „Mama“ aus dem Mund des Geretteten beschließt ein Drama ehrlicher Auseinandersetzung. Alle Rollen sind glänzend besetzt. Allein die Kinder im Wechselbad ihrer Gefühle, gestisch und mimisch packend visualisiert, belegen das überaus feine Gespür der Filmemacher. In der Franziskuskirche wurde nur der optische Verlauf als Beamerpräsentation geboten – ohne die Originalmusik für den großartigen Stummfilm. Und was haben die beiden Musiker daraus „gemacht“? Es ist beachtlich, dass man zeitenweise gar nicht spürte, dass da live musiziert wurde. Höchst sensibel, zwei voll Stunden lang erlebte man ununterbrochen den beseelten Klang einer alle Gefühle ausdrückenden Musik: Die Geige Matthias Grafs spiegelte alle Stimmungen: oft im Einklang, orgelpunktartig, um dann die Spannung zu forcieren (z. B. durch erregendes Tremolando).
Das Bambussaxophon in dem ihm eigenen Sound, weicher, auch klagender als seine professionellen Metallgeschwister – alles in einem schier unendlichen Melodienfluss. Und Holger Ebeling korrespondierte in einem berückenden Dialog. Wenn die Geige eintönig klagte, umspielte er bewegt, mal zart, dann dominierend, potenzierte mittels der anderen Instrumente, eingeschlossen atemstockende Pausen. Das dynamische Anschwellen und Abebben ging unter die Haut, bis zum erlösenden Schluss. Ein großartiges Geschenk, das diese mitfühlenden Musiker dem ebenso atemlos mitgehenden Publikum gemacht hatten. Nach langen Sekunden des Nachklingens brach sich dann begeisterter Applaus Bahn – ein wahrhaft großer Filmabend – keine Konkurrenz des Open-​Air-​Kinos auf dem Johanneskirchplatz fürchten müssend.

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