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Alle waren froh, die stinkende, qualmende Hauptstadt verlassen zu können /​Arbeiten am Freundschaftshaus in Tutajev

uch dieses Jahr reiste Irmhild S. Betz-​Haberstock, Vorsitzende des Fördervereins Kinderheim Malachowa, mit Jugendlichen zu einem Arbeitsurlaub nach Tutajev in Russland. Der Anbau am Freundschaftshaus Gebhard Betz sollte fertig gestellt werden.

Donnerstag, 23. September 2010
Rems-Zeitung, Redaktion
2 Minuten 55 Sekunden Lesedauer

WALDSTETTEN (rz). Die Reise ging über Wien. 14 Jugendliche, Ortrud Betz, Gründungsmitglied des Fördervereins aus Waldstetten, Gernot Wiegand, Vorsitzender von Kinderschutz e.V. aus München, und Irmhild S. Betz-​Haberstock landeten am späten Nachmittag in Moskau. Ein gelblich-​grauer giftiger Smog hing über der Stadt, es war heiß, die Sicht schlecht, die Straßenbeleuchtung war eingeschaltet und es roch nach Verbranntem. Das Atmen fiel schwer. Mit einem Kleinbus fuhren die Gäste in Richtung Tutajev. Nach drei Stunden ließ der Brandgeruch nach, nach sechs Stunden, gegen vier Uhr am Morgen, war die Gruppe in Tutajev angelangt. Herzlich wurden alle von ihren Gastfamilien begrüßt, doch geschlafen hat in dieser Nacht wohl niemand. Am nächsten Tag war Erholung beim Gründungsfest der Stadt angesagt. Natascha Wetzkaja, Ansprechpartnerin der Waldstetter, wurde dabei als Ehrenbürgerin der Stadt geehrt. Doch so richtig erholsam war das alles nicht, es war 40 Grad Celsius heiß und man konnte keine Sonne sehen. Zu manchen Zeiten sah man das andere Ufer der Wolga nicht mehr.
Bereits acht Tage zuvor waren zwei Mitglieder des Fördervereins, Ewald Schuler und Elgard Schulz, nach Tutajev gereist, um alles vorzubereiten und Material einzukaufen. Die Baustelle wurde übergeben, und nun waren die Jugendlichen am Zuge, zu zeigen wie sie arbeiten konnten — und das konnten sie wirklich. Die Verständigung klappte auch ohne gemeinsame Sprache sehr gut.
Doch dann wurde eine Stichsäge und ein Hobel benötigt. Was ist das russische Wort für Hobel und Stichsäge? Auch das Wörterbuch konnte nicht weiterhelfen. Also mussten Bleistift und Papier herhalten. „Ich malte einen Hobel und eine Stichsäge auf ein Blatt Papier“, erzählte Irmhild S. Betz-​Haberstock. Endlich fand man einen russischen Jungen, der so etwas schon gesehen hatte. Er erklärte sich bereit, zwei Jugendliche ins Geschäft zu begleiten. Nägel in verschiedenen Größen zu kaufen war dann nicht mehr so schwierig. „Man kann mittlerweile alles kaufen, wenn man weiß wo“.
Doch die Jugendlichen waren nicht nur zum Arbeiten nach Russland gefahren. Eine Stadtbesichtigung gehörte zum Programm, ebenso ein Ausflug in die Hauptstadt des Gebietes nach Jaroslawl.
Ein Höhepunkt war der Programmpunkt „Filzen“ für die Jungs und „Sägen“ für die Mädchen. Die Jungs haben sich eindeutig besser geschlagen. Zuerst arbeiteten nur die deutschen Jungen mit der Wolle, doch dann wurden die russischen Jungs mutiger; für sie ist es unvorstellbar, dass in Deutschland „Mädchenarbeit“ nicht nur von Mädchen gemacht wird, erzählt Betz-​Haberstock. In Russland gebe es noch eine ganz strenge Trennung zwischen „was tun Jungs und was tun Mädchen“. Das Ergebnis war toll.
70 Kilogramm Übergepäck mussten mit nach Russland — vor allem eine Wasserpumpe, dazugehörige Schläuche und eine Dekupiersäge für einen jungen Mann. Dies war nur möglich, da Austrien Airlines dieses Übergepäck kostenlos genehmigte.
Mit der Dekupiersäge hatte es eine besondere Bewandtnis. 30 Jahre ist Aljoscha alt. Nach einem traumatischen Erlebnis in seiner Heimat Russland geht er nicht mehr unter Menschen. Nach zehn Jahren beginnt er erst jetzt langsam, wieder zu sprechen, wacht ein wenig aus seiner Apathie auf. Doch er schafft es bis heute nicht, ein normales Leben zu führen. Die letzten Jahre suchte er eine Möglichkeit, von zu Hause aus, etwas Geld zu verdienen. Seine Mutter ist seine einzige Ansprechpartnerin; mit Vater und Bruder redet er nicht. Aljoscha entschloss sich, kleine Holzarbeiten anzufertigen, doch er braucht dazu ein Werkzeug. Im Internet fand er Dekupiersägen. Diese Säge war für ihn ein Lichtblick — doch in Russland nicht erschwinglich. „Aljoschas Mutter wandte sich an mich. Sie bat mich, eine gute Säge für ihren Sohn mitzubringen.“ Betz-​Haberstock wandte sich also an die Firma, die die besten Dekupiersägen bauen soll“, wie sie erzählt, und der Geschäftsführer dieser Firma war wohl spontan bereit, eine sehr gute Säge zu sponsern. Das fehlende Geld steuerten die deutschen Jugendlichen des „Worc-​Camps Freundschaftshaus Tutajev“ bei.
Die Säge wurde dem Bruder übergeben. Seit August arbeitet Aljoscha nun damit. „Gestern erfuhr ich, dass er überglücklich ist und bereits einige schöne Kunstwerke geschaffen hat. Die schönste Nachricht aber war, dass er beim nächsten Besuch die Jugendlichen und die Begleiter des Camps treffen möchte um sich zu bedanken. Er hat sich fest vorgenommen wieder unter Menschen zu gehen“, freut sich Irmhild S. Betz-​Haberstock.

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