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Eine Wucht — Stephan Beck auf der Münsterorgel

So abgegriffen das Zitat „Alle Jahre wieder …“ erscheinen mag — die Tradition der Benefizkonzerte von Münster– organist Stephan Beck wird alljährlich zum 1. Advent sehnsüchtig erwartet.

Dienstag, 29. November 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
2 Minuten 57 Sekunden Lesedauer

KONZERT (-ry). Jung und Alt füllen in großer Zahl das Heilig-​Kreuz-​Münster — ein überwältigendes Indiz für die gute Sache selbst: die Unterstützung des Münsterbauvereins, der sich der Johanniskirche annimmt. Das Konzert ist eine wunderbare Einstimmung in die „stille Zeit des Jahres“ — weg von Rummel und Trubel. Zweierlei verlockt jedes Mal zum Staunen: wie der Künstler seine Orgel kennt und deren vielseitige Register treffsicher zum Klingen bringt und welche Werke er präsentiert. Auch Münsterpfarrer Robert Kloker hatte sich wohl die Augen gerieben: nur drei Werke? Kein Wunder, wenn das letzte allein 30 Minuten Dauer hat, zugleich in ehrenvollem Gedenken des 200. Geburtsjubiläums von Franz Liszt in diesem Jahr. Seine Fantasie und Fuge „Ad nos, ad salutarem undam“ („Zu uns, zur heilbringenden Welle“) bildete den Schluss des dreiteiligen Rahmens.
Den Anfang machte Bachs berühmte „Toccata, Adagio und Fuge“ C-​Dur BWV 564, ein typisch virtuoses Werk mit meditativem Mittelteil. Ganz gegen den Mainstream erliegt Stephan Beck nicht dem üblichen „Herunterhauen“ in eitler Tempodemonstration, die mehr den Interpreten als das Werk selbst in den Mittelpunkt stellt. Nein, in der angemessenen Demut des Vortragenden erlebt man ein Werden eines Kunstwerks unter den Händen (und Füßen) des Ausführenden, das mitvollziehen und genießen lässt. Beck weiß um das Kriterium des Raumes, verkürzt damit nicht auf ein völlig abstraktes „L’art pour l’art“. So zeichnen die heikelsten Passagen (etwa im Pedal — mit Echo!) klar und lassen das Filigran der Linienführung ohne akustisches Verschmieren deutlich werden. Das besinnliche Adagio fließt berückend schlicht, labial und ohne Tremulanten — ein ganz neues Erlebnis. Und die Fuge strahlt von innen her — alles ein Klangjuwel.
Das zweite Werk ist dem (gerade erst beginnenden) Kirchenjahr geschuldet: „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ von Dietrich Buxtehude. Becks Programmeinführung hinsichtlich Qualitätseinschätzung und Bedeutung des Tonsetzers ist nichts hinzuzufügen.
Zwei Strophen des Chorals in gemäßigten und dann raschen Tempo umspielen den Cantus firmus ganz prächtig. Die sorgsame Registrierung mit Zungen, Labialen, silbriger Klangkrone, Tremulant und Glocken zeugt ein farbiges Spektrum, immer unter der Dominanz des Themas. Auch die interessante Rhythmisierung der Kontrapunkte mit Zweiunddreißigstel– oder Triolenbewegung trägt zur Lebendigkeit bei. Das triolische Finale verlangt geradezu nach der Fugenform — kein Wunder, dass Bach vom Lübecker Meister an St. Marien viel gelernt hat.
Nach diesem Quasi-​Ruhepunkt dann also Liszts Themenaufnahme aus Meyerbeers Oper „Le prophète“, der Nummer 3, der Predigt der Wiedertäufer. Sieht man von dem schwülstigen Text ab (den kein Geringerer als Ludwig Rellstab ins Deutsche übersetzte), so verleiht Liszt dem Zitat eine Größe sondergleichen. Der Komponist und die kongeniale Orgel des Merseburger Doms führen zu einer ganz neuen Wahrnehmung des (orchestralen) Instruments und der entsprechenden Literatur. Es muss einen mit Wut erfüllen, wie seine Tochter Cosima (Richard Wagners Frau) ein ehrenvolles Begräbnis in Bayreuth hintertrieb, um die Reputation des narzisstischen Heroen des „Grünen Hügels“ nicht zu tangieren. Wie dagegen spricht die Musik Liszts für dessen Genie — keine Virtuosität um ihrer selbst willen, sondern ein Kosmos von Ideen, Kontrasten und — Zeit! Die Noten lassen erschauern: Doppelpedal, Pedalakrobatik zu clustergleichen Akkordligaturen und –trillerketten, kühnste Harmonien, manuale Akkordbrechungen, triolische Bewegung samt Hemiolen, zuweilen scharf strukturierte Rhythmen, dann wieder Ruhe. Der Kürzungsvorschlag erweist sich als völlig unnötig.
Der Schluss brachte
die Luft im Münster zum Erbeben
Die signifikante symphonische Entwicklung eines expressiven Werkes ist mitreißend. Bereits die physische „Arbeit“ der Ausführung heischt Respekt, wie viel mehr das zündend durchgeistigte Spiel Stephan Becks. Vielfältig wird nicht nur das Thema „durchgeführt“ in allen möglichen Varianten. Dasselbe gilt für kühne Modulationen und die minutiös intendierte Registrierung.
Tiefgründig zeichnet die voluminöse Portunalflöte (durch Stephan Becks logisch zwingende Initiative nachträglich in die Orgel eingebaut). Bereits der tiefdunkle, fast „dicke“ Introitus, das Ausfalten der Thematik, die wiederholten „Einsprüche“ differenzierter Kontraste bis hin zum bombastischen Tuttischluss, der die Luft förmlich zum Beben brachte — das ging unter die Haut (auch die Assistenz muss gebührend gelobt werden!).
Nach diesem Eindruck eine Zugabe? Stephan Beck löste die Quadratur des Kreises auf seine ganz originelle Weise: eine dezente Improvisation, deren Thema „Wir sagen euch an den lieben Advent“ einem eher augenzwinkernd unterschoben wurde, knisternd, rhythmisch beschwingt — eine ganz persönliche, überaus gelungene Wahrnehmung des eher für Kinderherzen gedachten Liedes.
Wie sagte die engst verwandte Hörerin treffend: Das ist einfach Gnade.

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