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Nachrichten Ostalb

Blick auf die Männer und Frauen, die 2006 am Abendgymnasium ihr Abitur gemacht haben

Die Klasse von 2006 zeigt nicht nur, warum das Abendgymnasium im Ostalbkreis eines feste Größe geworden ist, sie ist auch das beste Beispiel dafür, dass es nie zu spät ist, Träume wahr zu machen. Lebenslanges Lernen ist keine Drohung, sondern eine Chance.

Donnerstag, 17. Februar 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
5 Minuten Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND (bt). Melanie Mager ist in Mecklenburg-​Vorpommern aufgewachsen. Sie war zwölf, als die Familie nach Gmünd zog und hier ein Zuhause fand. Melanie war auf dem Parler-​Gymnasium, wechselte dann in der 8. Klasse in die Schiller-​Realschule. Das Abitur hatte damals keinerlei Reiz: „Heute würde ich sagen, ein typisches Pubertätsproblem“. Lernen war einfach nur doof. Die junge Frau begann nach der Schule zu jobben, brachte mit 19 Jahren ihr erstes Kind zur Welt, heiratete und bekam noch ein Baby. Etwa zu diesem Zeitpunkt wurde ihr klar, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte, wenn ihre Kinder sie dereinst nach ihrem Beruf fragen würden. „Was bist Du“, „was hast Du gemacht“ – niemand sollte solche Fragen fürchten müssen, heißt das doch nichts anderes, als dass der falsche Weg eingeschlagen wurde. Wenig reizvolle Aussichten also. Die Arbeit in der Pizzeria war gut, keine Frage, aber es war nicht das, was sie den Rest ihres Lebens tun wollte. Melanie Mager ist nicht der Typ, der jammert. Sie beschloss, zu ändern, was ihr nicht gefiel, sobald sie von den Kindern nicht mehr rund um die Uhr gebraucht wurde.
Drei Jahre lang hat sie dann Freitag– abends von 16.30 bis 22 und am Samstag von 7.30 bis 18 Uhr in Gmünd das Abitur nachgeholt. Keine leichte Zeit, zumal sie noch drei Abende in der Woche in der Pizzeria jobbte. Ohne ihre Familie wäre das niemals möglich gewesen, und, ja, es war eine große Belastung, nicht zuletzt für den Ehemann: „Wir sahen uns in dieser Zeit praktisch gar nicht. Er kam, ich ging und umgekehrt“. Nur ihr zuliebe hat er das so lange mitgemacht.
In der zwölften Klasse wollte sie aufgeben, da hatte sie sich immerhin schon die Fachhochschulreife erarbeitet; damals haben die „Mitschüler“ sie darin bestärkt, ihre Träume wirklich zu verwirklichen: „Die ganze Klasse hielt zusammen“, ist Melanie Mager noch heute dankbar. Und so kam sie zum Abitur.
Gespräche beim Arbeitsamt empfand die Böbingerin als relativ unergiebig, deshalb hat sie sich selbst nach einem Beruf umgesehen, der zu ihr passte. Gar nicht so einfach. Für Melanie Mager ist es selbstverständlich, etwas dazu zu verdienen. An ein Studium, das ihr Semestergebühren abverlangte, war ohnehin nicht zu denken. So kam’s zum Berufswunsch Regierungsinspekteurin: Interessante Menschen, Themen, die sie reizen, vielfältige Chancen, später beruflich Fuß zu fassen. Ihre Begeisterung war wohl spürbar; unter über 2000 Bewerberinnen und Bewerbern wurden in Ludwigsburg 250 ausgewählt; Melanie Mager war eine von ihnen. Am 1. März nimmt sie ihr Studium auf, das finanziert wird. Fast ebenso wichtig: Der Beamtenstatus auf Widerruf steht für eine gute Absicherung. Im vergangenen halben Jahr, während eines Einführungspraktikums im Böbinger Rathaus, hat sich gezeigt, dass das Studium möglich ist – die Kinder, mittlerweile zwölf und neun Jahre alt, sind großartig. Sie verstehen, um was es geht und sind stolz auf die Mama: „Zumindest bis jetzt; ich hoffe nur, dass sich daran nichts ändert.“ Ohne die Böbinger Hausaufgabenbetreuung, generell ohne Hilfe, wäre es der 31-​Jährigen niemals möglich, aus ihrem Leben das zu machen, was ihr vorschwebt. Dafür ist sie zutiefst dankbar.
Würden sie’s wieder tun?
„Ja, ja, ja“
Bertram Nagel ist 28 Jahre alt. Der Bargauer hat die Schule mit dem Hauptschulabschluss beendet: „Die Lust zum Lernen hatte nachgelassen und ich hab mir einen Ausbildungsberuf gesucht, der mir gefiel“. So wurde er Maurer. Na ja, dann packte es auch ihn: Er wollte und er konnte etwas anderes machen. Also schrieb er sich schließlich im Abendgymnasium ein. Klar, der Freundeskreis war nicht begeistert – jeden Freitagabend, jeden Samstag fiel er aus, und auch für ihn gab’s Phasen, in denen er am liebsten hingeschmissen hätte. „Aber irgendwann ist man in der zwölften Klasse und das Ziel in greifbarer Nähe. Da gibt man nicht auf.“ Mit dem Abitur in der Tasche studierte Bertram Nagel Bauphysik. Im vergangenen Jahr machte er seinen Abschluss und arbeitet heute in einem Fellbacher Ingenieurbüro. In diesem Beruf fühlt er sich so richtig wohl: „Das war genau das Richtige.“
Bernd Kreuzer ist 46 Jahre alt und hat vier Kinder. Der Betriebswirt verließ das Abendgymnasium 2006 mit der Fachhochschulreife; mittlerweile setzen und setzten vier Familienmitglieder aufs Abendgymnasium. Die Tochter wird in diesem Jahr zur Abi-​Prüfung antreten, der Sohn 2012. Die Ehefrau, gelernte PTA und ebenfalls 46 Jahre alt, hatte sich 15 Jahre lang der Kindererziehung gewidmet und musste dann feststellen, dass niemand sie einstellen wollte. Irgend– wann wurde ihr klar, dass sie noch 25 Arbeitsjahre im Beruf vor sich hatte – viel zu lange, um sich mit einem ungeliebten Beruf zufriedenzugeben. Also setzte auch sie aufs Abendgymnasium, und auch ihr gelang es, die Kinder nicht zu vernachlässigen. Das wiederum fand ein Apotheker so beeindruckend, dass er ihr zu einem Teilzeitjob verhalf. Ulrike Kreuzer hatte ihr Abitur 2009 in der Tasche und studiert an der FH Aalen Oberflächentechnik: Es ist nie zu spät, etwas zu verändern.
Jutta Barth, 43, ist gelernte Bankkauffrau. Als Kind wollte sie unbedingt das Abitur, und nach dem Realschulabschluss war das Wirtschaftsgymnasium ihr großes Ziel. Die Mama fand damals freilich, das Mädle solle zunächst einen Beruf erlernen. Jetzt hat sie nicht nur das Abitur, sondern auch ein erfolgreich abgeschlossenes Studium zur Bankbetriebswirtin. Die Eltern unterstützten sie nach Kräften, und so gab es nur sehr wenige Phasen, in denen sie am liebsten aufgegeben hätte. Würde sie’s noch einmal tun? Ja, lacht sie überzeugt und überzeugend und ein bisschen stolz: „Ja, ja, ja.“ Derzeit liebäugelt sie mit einem Rechts-​Studium an der Fernuniversität.
Tobias Ilg, 28 Jahre alt, in Gmünd geboren und in Waldstetten aufgewachsen, war nicht glücklich als Bürokaufmann. Nach dem Abitur 2006 ließ er sich zum Offizier ausbilden; im Masterstudiengang Geschichtswissenschaften bei der Bundeswehr fühlt auch er sich endlich angekommen im Leben seiner Wahl. Heute lebt er in Hamburg. Die Doppelbelastung Schule und Beruf dürfe nicht überbewertet werden, erklärt er – was durchaus als Ermutigung für alle verstanden werden darf, die ebenfalls nach grüneren Wiesen und einem anderen Horizont suchen: „Man kriegt das unter einen Hut; es fiel bei weitem nicht so schwer, wie gedacht“.
Jens Weber ist 28 Jahre alt, hat teilweise finnische Wurzeln und ein ansteckendes Lachen. Er hat das Wirtschaftsgymnasium abgebrochen, ließ sich zum Industriemechaniker ausbilden und wachte eines Tages auf mit der Erkenntnis, dass er nicht am „Fließband“ alt werden wollte. Jetzt studiert er Sonderpädagogik; in diesem Jahr steht das erste Staatsexamen an.
Steffen Sigle, 26 Jahre, hatte die Ausbildung zum Groß– und Außenhandelskaufmann hinter sich gebracht, als ihm die Lust zu lernen keine Ruhe mehr ließ. Sigle besuchte gemeinsam mit seiner Schwester das Abendgymnasium, studiert heute Biologie und steht kurz vor seinem Abschluss als Diplombiologe. Freundin und die Freunde haben ihn die ganze Zeit über unterstützt; auch er meint: „Es ist bei weitem nicht so schwierig, wie sich die meisten das vorstellen“. Es habe Spaß gemacht, außerdem sei man eine richtig gute Truppe gewesen. Ein entscheidender Vorteil der Abendgymnasiasten ist, dass sie durchweg bereits gearbeitet haben und gelernt, Kräfte und Ressourcen sinnvoll einzusetzen. Wer bereits eine Familie gemanagt hat, wer sich im Beruf bewährt, tut sich mit vielem sehr viel leichter.
Eberhard Kitzenmaier, 54-​jähriger Handelsfachwirt, hat drei Kinder und mit seinem Spätzünder-​Abitur ebenfalls einen alten Traum wahr gemacht. Ursprünglich wollte sich sein Sohn über das Abendgymnasium informieren, doch er war es, der „hängengeblieben“ ist. Sein Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Fernuni Hagen schließt er jetzt als Diplom-​Kaufmann ab. Nach einer eher schlechten mittleren Reife hatte Kitzenmaier Angst, überfordert zu sein, „aber es klappte prima“. Seine Frau studiert jetzt auch, so ansteckend war seine Freude am Abendgymnasium Ostwürttemberg. Ihm ist es wichtig zu zeigen, „dass das Abendgymnasium für jeden, ganz gleich wie alt er ist oder in welcher persönlichen Situation er sich befindet, eine gute Möglichkeit bietet, etwas zu ändern“. Abgesehen vom schulischen Abschluss habe diese zweite Schulzeit allen Teilnehmern auch menschlich sehr viel gegeben – im Umgang miteinander, aber auch durch gewachsenes Selbstvertrauen. Bis heute trifft sich die Klasse von 2006 zu Stammtischen, zu Weichnachts– und Sommerfesten; im Sommer ist wieder ein Wochenendausflug geplant: „Da haben sich tolle Freundschaften ergeben“.

Informationen über das Abendgymnasium gibt’s unter www​.AGOW​.de

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