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Orientwissenschaftler Jürgen Wasella sprach in der Volkshochschule Schwäbisch Gmünd über die Ägyptische Revolution

Vom Hintergrund, den Akteuren und den Tendenzen in der Ägyptischen Revolution sprach Jürgen Wasella in der Volkshochschule. Darüber hinaus wagte der Orientalist einen Ausblick in die aktuelle Entwicklung des gesamten arabisch-​islamischen Raums.

Mittwoch, 09. März 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
2 Minuten 36 Sekunden Lesedauer

VORTRAG (ww). „Was ist eigentlich passiert?“, stellte Wasella an den Anfang seines Vortrags. „In nur 18 Tagen wurde ein in 60 Jahren gewachsenes System hinweggefegt“, lautete die Antwort.
Bemerkenswert daran sei, dass dies sowohl ideologie– als auch gewaltfrei und dazu noch selbstorganisiert geschehen sei. Vorläufiges Ergebnis sei die Machtübernahme durch das Militär, der Weg in „eine Art Demokratie“ ungewiss. Ungewöhnlich bei diesem Volksaufstand sei die Verbindung von Militärputsch und Jugendbewegung.
Die Berichterstattung in den deutschen Medien über diese Ereignisse sei, so Wasella, völlig unzureichend gewesen. Fast kein Berichterstatter habe sich ins Feld des Geschehens begeben, man habe nur aus den Hotelzimmern berichtet. Dieses sich informieren aus zweiter Hand, sprich den dortigen Medien, habe die eigentlichen Quellen, die Menschen, nicht berücksichtigt. Sender anderer Länder seien daher der Sache wesentlich gerechter geworden. Erklären lasse sich die Entwicklung in Ägypten aus den Ereignissen von 1952, als ein unblutiger Militärputsch das korrupte Regime König Faruqs beseitigte.
Die schon bisher ausgeprägte Militärgesellschaft entwickelte sich unter Nasser verstärkt in Richtung „arabischer Sozialismus“. Nachfolger Sadat vollzog dann die Kehrtwende und öffnete das Land nach Westen. Mubaraks anschließende Politik gab dann vermeintlicher Stabilität den Vorzug — demokratische Entwicklungen wurden gewaltsam unterdrückt. Die schon unter Nasser einsetzende Verfolgung der Moslembrüder wurde extrem ausgeweitet und intensiviert — tausende Mitglieder einfach liquidiert oder in Konzentrationslager verbracht.
Wieder erweckt worden sei die Bewegung durch die zunehmende soziale Spaltung Ägyptens – der Preis der westlichen Annäherung – sie fing große Teile der immer ärmer werdenden Bevölkerung sozial auf.
Die Keimzelle der fürchterlichen und allgegenwärtigen Korruption sieht Wasella in der Privatisierung der bisher staatlich gelenkten Wirtschaft. Regierungsnahe Ägypter kamen dadurch mehr an die Fleischtöpfe als andere. Diese Klientelpolitik habe Mubarak immer mehr zum Pharao werden lassen – in Ägypten Synonym für illegitime Herrschaft. Kosmetische Korrekturen in Richtung Demokratie wurden nicht mehr akzeptiert, die Polarisation im sozialen Bereich sei durch die kleptokratische Politik fortgeschritten.
Beschleunigt worden sei die Entwicklung auch durch ägyptische Gotteskrieger aus Afghanistan, sie seien für die Anschläge der 80-​er Jahre verantwortlich. Als Reaktion folgte verstärkte Repression aus der letztendlich die „Kifaya“-Bewegung, als „es reicht“ zu übersetzen, entstanden sei. „Es zeigten sich Risse im System“, so Wasella. Hilfreich seien auch neue Medien wie Internet und Facebook gewesen, sie schufen eine unkontrollierbare Gegenöffentlichkeit.
Damit brach das Informationsmonopol der Regierung zusammen, die Bewegung verbreiterte sich. Ganz allgemein könne man den Aufstand in fünf Phasen gliedern. Nach dem Beginn der Massenproteste sei ein gelenkter Zusammenbruch der staatlichen Ordnung herbeigeführt worden. Darauf sei die Entmachtung Mubaraks durch das Militär erfolgt und der Aufstand habe sich um die „alte“ Zivilgesellschaft erweitert. Anschließend übernahm das Militär die Macht. Parallel zu diesen Vorgängen zerbrach die NDP — führende Partei Ägyptens — und die Staatsicherheitsorgane lösten sich auf. Eine der wenigen überlebenden Organisationen sei die Moslembrüderschaft.
Was jetzt folge, könne man nicht genau sagen, so Wasella; vor allem nicht, wann und ob die Armee bereit sei zur Machtübergabe. Als zukünftiger Präsident sei Amr Musa denkbar, der ehemalige Außenminister und Kritiker Israels. Ayman Nour, der fünf Jahre im Gefängnis saß, habe als liberaler Kandidat Chancen. Für Sayyid al-​Badawi, den Führer der nationalistischen Wafd-​Partei, sehe er weniger Aussicht auf Erfolg, zu lange sei er in Mubaraks Nähe gewesen.
So sehe er, Wasella, noch wenig Organisation in der Demokratiebewegung. Ausnahme seien die Muslimbrüder, aber diese arabischen Revolutionen seien weniger oder gar nicht islamistisch, wie im Westen häufig fälschlicherweise angenommen werde.
Vielmehr werde die Revolution von allen Schichten der Gesellschaft getragen, das Risiko sehe er in nicht funktionierenden Volkswirtschaften. Aber „Die Stimme der Freiheit ruft“, laute die Hymne der Revolution.

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